Nachlässige Grammatik : Osteoporose im Sprachskelett
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Die Grammatik gehört dazu: Darstellung der sieben freien Künste im Museu Nacional d'Art de Catalunya in Barcelona Bild: Picture-Alliance
Neologismen oder Anglizismen sind Zeichen für Lebendigkeit des Deutschen. Etwas anderes aber bedroht es in seiner Substanz. Ein Gastbeitrag.
Nur tote Sprachen verändern sich nicht. Der Wandel, dem das Deutsche gerade heute unterliegt, ist ein Lebenszeichen. In fast allen Bereichen der Sprache ist vieles längst nicht mehr wie früher. Der Wortschatz, die Schreibung, die Satzbildung, der Stil sind für die älteren Sprachbenutzer anders, als sie es in der Schule gelernt haben. Sie stellen sich eher widerwillig den Neuerungen, während dies den Jüngeren leichtfällt, denen die historische Dimension des Lernens fehlt. Die Zurückweisung des Neuen ist eine Altersfrage: Die Jungen zwitschern eben nicht, wie die Alten sungen, sondern sprechen und schreiben provokant anders.
Doch in den einzelnen Bereichen der Sprache gibt es unterschiedliche Härtegrade der Abwehr sprachlicher Neuerungen, die sich ohnehin nicht mit gleicher Geschwindigkeit ankündigen. Im Wortschatz finden Veränderungen weit schneller statt als in der Grammatik mit ihren festen Flexionsformen und syntaktischen Regeln. Im Unterschied zum robusten System der Grammatik, das über lange Zeit stabil bleibt, erweist sich der Wortschatz immer wieder als volatil.
Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, das keinen festen Regeln folgt, sondern jeweils aktuellen Trends: im achtzehnten Jahrhundert französischem Vorbild, heute angloamerikanischem. Ganz verschiedenartige Einflüsse – aus der Jugendsprache, dem politischen Diskurs oder der Welt der Technik – machen sich geltend.
Neuzugänge und Bedeutungsveränderungen
Wörter verschwinden und werden durch neue ersetzt, die oft zunächst Missfallen erregen, schließlich aber geduldet werden: Der den braven Lehrling ersetzende grässliche Azubi ist ein bekanntes Beispiel. Über das nützliche Handy hat man sich zunächst aufgeregt, dann aber eingesehen, dass es handlicher ist als das Mobiltelefon. Dem exotisch klingenden Schupo folgte der Polizist, dem französischen Mannequin das amerikanische Model, der langatmigen Eintrittskarte das simple Ticket, und der umständliche Sommerschlussverkauf ist dem kurzen und bündigen Sale gewichen.
All diese Neuzugänge stellen keine existentielle Bedrohung des Deutschen dar – ebenso wenig wie die Bedeutungsveränderungen in vielen Wörtern, auch wenn sie nicht jedem gefallen. Ein „heißer Typ“ existiert mittlerweile seit Jahren, und „geil“ als zustimmende Bewertung ohne sexuelle Konnotation ist inzwischen auch den älteren Sprachbenutzern geläufig, die allerdings immer noch über relative Neulinge wie „daddeln“ oder „Tanke“ die Nase rümpfen und mit dem Satz „Er hat einen Lauf“ zunächst nichts anfangen können.
Beifallheischende Saloppheiten
Manche einheimischen Wörter und Wendungen verlieren allmählich ihre alte vertraute Bedeutung und werden klammheimlich akzeptiert. „Ganze hundert Euro“ bedeutet neuerdings „nicht weniger als“ – und nicht, wie bisher, „nicht mehr als“. Und längst wird „scheinbar“ semantisch nicht mehr von „anscheinend“ unterschieden. Doch auch davon geht die Welt der deutschen Sprache nicht unter. Derartige Veränderungen und Neuerungen betreffen die Weichteile der Sprache, nicht deren Skelett.
Im stilistischen Bereich geht man immer öfter durchlässig – eigentlich: fahrlässig – mit den verfügbaren Registern um. Dies sind im Grunde beifallheischende Saloppheiten, die sich viele Benutzer eines gehobenen Stils heutzutage gestatten. Sie weisen sich so als mit der Zeit gehend aus. Da hat auch ein ansonsten sehr erwachsener Manager „null Bock“ auf weitere Umstrukturierungen, und ein kurz vor der Pensionierung stehender Gymnasialdirektor „steht nicht auf“ den Stundenplanentwurf seines Stellvertreters.