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Sprache im Bundestag : Reden Politiker nur Kauderwelsch?

Leergeredet? Der Deutsche Bundestag hat mehr rhetorische Talente als die Uni Hohenheim glauben macht. Bild: dpa

Die Uni Hohenheim und der Deutschlandfunk wollen beurteilen, wie verständlich Politiker im Bundestag reden. Was ist der Maßstab? Eine Software, die wenig versteht.

          3 Min.

          Den Hohenheimer Verständlichkeitsindex zu verstehen ist nicht einfach. Er wäre selbst einmal der Hohenheimer Verständlichkeitsforschung zur Bewertung vorzulegen. Man informiere sich über das dreistufige Berechnungsverfahren (Benchmarking, Skalierung, Index-Bildung) von Verständlichkeit auf der Homepage der Universität Hohenheim unter dem Stichwort „Klartext-Initiative“, um festzustellen: Hier gibt es ja gar keinen Klartext! Hier ist ja alles in einer kommunikationswissenschaftlichen Fachsprache ausgedrückt, um – wie der federführende Klartext-Professor Frank Brettschneider erklärt – eine „objektive und vergleichende Bewertung von Verständlichkeit“ anhand von Parametern wie Wort- und Satzlänge, Fremdwörtergebrauch und Anteil abstrakter Begriffe, Schachtelsätzen undsoweiter zu ermöglichen.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

          Doch schon diese Methodologie wirft Fragen auf. Läuft sie nicht auf eine recht eindimensionale Analyse von Verständlichkeit hinaus? Nach dem Motto: Je kürzer und deutscher ein Satz, desto besser? Ohnehin ist Verständlichkeit – wie auch immer sie „objektiv“ zu messen sein soll – nur ein preisgünstiger Ersatz für den kommunikativen Schlüsselbegriff der Verständigung. Lässt sich die Textseite von Verständigung denn tatsächlich derart von der Adressatenseite trennen, von dem Interesse und der Vorbildung der Rezipienten? Nicht jedermann versteht alles auf die gleiche Weise. Wird in Hohenheim also mit einem Begriff von Allgemeinverständlichkeit hantiert, der künstlich ist?

          Bei gelingender Kommunikation geht es ja weniger um eine Abhaken von formaler Verständlichkeit als darum, die Bedeutung des Dargestellten zu begreifen, es also in ein – Achtung Fremdwort! – kontextsensibles Verhältnis zum Einzelfall setzen zu können. Klar kann man fragen, wie Sätze so zu gestalten sind, dass man sich noch lange an sie erinnert und deren Sprecher glaubwürdig findet (das herauszufinden gehört nach Brettschneiders Worten zu seiner „Grundlagenforschung“). Aber ist das nicht Sache des kleinen rhetorischen Einmaleins? Beziehungsweise gehört seit je zum Basiswissen politischer Propaganda?

          „Keine Erbsenzähler“, sondern?

          Nein, wir sind „keine Erbsenzähler“, wir sind „nicht trivial“, wir „kratzen nicht nur an der Oberfläche“, meinte Brettschneider auf entsprechende Fragen bei der Vorstellung einer Studie zum Thema „Wie verständlich sprechen Politiker und Politikerinnen?“, die er gemeinsam mit Marco Bertolaso, Nachrichtenchef beim Deutschlandfunk, präsentierte. Mit entwaffnender Offenheit fügte Brettschneider hinzu: Auch Politiker müssten sich in ihrer Verständlichkeit anhand der Hohenheimer Klartext-Parameter messen lassen, weil andere Parameter „mit dieser ,Software nicht messbar sind“.

          So geht Zirkelschluss. Schade, nebenbei bemerkt, dass man bei den stenographierten Plenarprotokollen des Deutschen Bundestages, die man als Belegmaterial heranzog (Haushaltsdebatte im September 2022), nicht auch die belebenden Zwischenrufe und deren verständlichkeitsfördernde Funktion berücksichtigt hat. Und natürlich gehört zur politischen Rhetorik einer Haushaltsdebatte auch der kunstvoll entfaltete Schachtelsatz, das stilsicher eingesetzte Fremdwort. Wovon die Uni Hohenheim erkennbar nichts weiß.

          Kauderwelsch bleibt Kauderwelsch

          Was weiß man aber, wenn man nun ausweislich der Presseerklärung weiß: „Christine Lambrecht war in der Haushaltsdebatte im September 2022 die beste aus dem Kabinett.“ Die zwischenzeitlich zurückgetretene Verteidigungsministerin habe unter den Kabinettsmitgliedern „mit der formal verständlichsten Rede“ gepunktet. Müsste nicht schon dieses Siegertreppchen stutzig machen? In dem Sinne, dass mit der Hohenheimer Verabsolutierung von leichter Sprechweise etwas nicht stimmt? Da werden doch wohl wichtige Voraussetzungen zum Verständnis einer Politikerrede ausgeblendet, nur weil sie sich in der vorliegenden Software nicht messen lassen. Was verspricht man sich vom Ertragskriterium einer formalen Verständlichkeit, wenn diese keinerlei Rückschlüsse auf den politischen Gehalt, seine Triftigkeit und Überzeugungskraft erlaubt? Anders gefragt: So what, Hohenheimer Verständlichkeitsindex?

          Dass Kauderwelsch immer Kauderwelsch bleibt und eine verworrene Sprechweise sich nicht mit der Komplexität ihres Gegenstandes rechtfertigen lässt, ist unstrittig. Dafür braucht es nicht den Objektivismus der Hohenheimer Verständlichkeitsforschung. Er versteht im Missverstehen.

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