„Ehe für alle“ : Alles ganz normal mit der sozialen Ordnung der Dinge
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Unsere Gesellschaft ist nicht mehr so an biologische Normen gebunden, wie vor einigen Jahrhunderten. Bild: AFP
Sie säen, sie ernten, und der Herrgott ernährt sie auch: Die Ehe für alle ist ein natürliches Produkt der modernen Gesellschaft. Ein soziologischer Gastbeitrag.
Ist die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften in Deutschland nur das zufallsbehaftete Produkt eines momentanen Lapsus einer bedeutenden Staatsfrau? Nichts könnte falscher sein. Die Normalisierung homosexueller Beziehungen ordnet sich vielmehr in einen jahrtausendelangen und sehr allgemein zu beobachtenden Trend ein. Soziologen können diesen unter den Titel stellen: „Wachsende Freiheitsgrade sozialer Ordnung gegenüber der biologischen Ordnung“. Das heißt: Die soziale Ordnung der Dinge folgt zunehmend weniger den Mustern, die durch natürlich-biologische Gegebenheiten – Klima, Wetter, Organismen, Biosysteme – definiert sind.
Dieser Trend gilt in vielen Hinsichten und auch für ganz andere Dinge als Liebe, Ehe, Sexualität, zum Beispiel für die Jagd oder für die Landwirtschaft, und zwar mit Blick auf Zeithorizonte gesellschaftlichen Tuns und dessen Einbettung in natürliche Zyklen wie Vegetationsrhythmen. Natürliche Zeitrhythmen sind in der modernen Gesellschaft weitgehend irrelevant geworden. Heute haben alle sozialen Bereiche ihre eigenen Zeitrhythmen: Parlamente haben ihre Legislaturperioden, Unternehmen ihre Quartalsberichte, Universitäten ihre Semester, Sportverbände ihre Ligen und ihre Wettkampfzyklen, Kriege ihre eigenen Gesetze von Ausbruch und Eskalation. All dies sind selbstgesetzte, nach eigenen Bedürfnissen definierte Zeitrahmen, die mit dem Wachsen von Pflanzen und der Bewegung von Tieren nichts mehr zu tun haben.
Der Zweitzweck der Reproduktion
Naturhafte Aspekte prägen nun auch die soziale Institution von Liebe, Ehe und Beziehung nicht mehr. Deren Kopplung an natürlich-biologische Sachverhalte wird gelockert, die selbstverständliche Verschaltung endet, die Freiheitsgrade sozialer Ordnungsbildung steigen. In frühen Gesellschaften war die Institution der Ehe schlechterdings untrennbar vom biologischen Tatbestand der Fortpflanzung, von Fragen nach Abstammungslinien und Clanzugehörigkeiten. Ehe ohne Fortpflanzung war nicht vorstellbar oder nicht sinnvoll; dergleichen mochte im Einzelfall vorkommen, aber es ließ sich ihm kein sozialer Sinn abgewinnen. Deshalb mussten Ehen zwischen Mann und Frau geschlossen werden, weil nur dies Fortpflanzung ermöglichte. Und noch im christlichen Mittelalter war es ein legitimer Grund für Eheauflösung, wenn eine Ehe keine Kinder hervorbrachte. Die moderne Gesellschaft dagegen schätzt die Ehe – das intime Zusammenleben zweier Menschen – als einen Zweck in sich selbst. Ihr Wert ist unabhängig vom biologischen Tatbestand der Reproduktion, vielmehr geht es um die soziale Dimension der Sache: um das intensive Bezogensein auf einen anderen, den ständigen Austausch auf alltäglichen wie außeralltäglichen Ebenen, das unendliche Entdecken und Erforschen der Tiefen und Untiefen der Seele des anderen – all das, was wir „Liebe“ nennen. Dieses Projekt ist in sich schwierig und unwahrscheinlich genug. Wenn es gelingt, auch zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Menschen, ist dies eine anerkennenswerte Leistung, die die moderne Gesellschaft ebendeshalb schätzt und schützt.
Es wird in dieser Gesellschaft immer wichtiger, mit einem relevanten anderen eng vertraut zu sein und die eigene Identität darin bestätigt zu sehen, weil der Rest der Gesellschaft immer anonymer, kälter und immer mehr an großen Zahlen orientiert ist. Es wird aber gleichzeitig immer schwieriger, es mit einem anderen im intimen Miteinander auszuhalten, weil die Menschen immer individualisierter werden, immer anspruchsvoller und reicher an Macken und Komplexen und immer höhere Erwartungen an Glück, Sinn und Erfüllung in Liebesbeziehungen stellen. Früher war man mit einer Ehe zufrieden, wenn man den anderen ohne größere Hassgefühle täglich am Frühstückstisch gegenübersitzen sehen konnte. Heute macht man es nicht unterhalb der mehr oder weniger idealen Charakterkonstellation, die beiden Partnern Anregung und Anziehung, Entspannung und Erregung, Vertrauen und Reibungsfläche bietet. Wenn dieses Kunststück zwei Menschen gelingt – umso besser. Ob diese Menschen dann auch noch den Zweitzweck der Reproduktion bedienen können oder wollen, ist schon nachrangig.
Der verlorene Wert der Körpergebundenheit
Hier liegt der tiefere Grund für die Normalisierung homosexueller Beziehungen, die seit einigen Jahrzehnten vor unseren Augen abläuft. Normalisierung meint dabei nicht nur den Trend zur rechtlichen Gleichstellung, sondern auch den Umstand, dass homosexuelle Beziehungen, sobald sie aus dem Druck des Sich-verstecken-Müssens und der Szeneexistenz entlassen sind, sich in praktisch allen Beziehungsdynamiken bis zur Ununterscheidbarkeit an heterosexuelle Beziehungen angleichen: in Mustern des romantischen Sich-Verliebens, im Übergang zum Beziehungsalltag und zu Problemen des Sich-Auseinanderlebens, der Krise und Trennung und auch in puncto Kinderwunsch und Familiengründung (abgesehen von deren biologischer Komponente). Es sind einfach ganz normale Beziehungen.
Schließlich rückt in der modernen Gesellschaft ja auch sonst die körperliche, biologische Ausstattung des Menschen in den meisten Tätigkeitsfeldern zunehmend an den Rand des Relevanten. Auch schwächliche Personen, die niemals eine körperliche Auseinandersetzung bestehen würden, können politische Spitzenfiguren sein; auch ungediente Personen und Frauen können Verteidigungsminister sein; auch übergewichtige und unsportliche Personen können Soldaten werden; und auch Kurzsichtige und Diabetiker können ein langes Leben und Nachkommen haben.
Es ist insofern egal, ob die volle rechtliche Gleichstellung homosexueller Beziehungen in einer Woche oder in einem Jahrzehnt durchgesetzt wurde, als, historisch gesehen, das alles nur eine Sekunde ist. Es gibt in der Gesellschaftsgeschichte nicht viele Trends, die man als unaufhaltsam und unumkehrbar bezeichnen kann. Dies ist einer davon.