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Sexualkunde in Schulen : Wer bestimmt, was Kinder lernen?

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Eltern bringen ihr Kind zur Schule – ab da entscheidet der Staat, was gelehrt wird. Bild: Picture-Alliance

Erziehungsrecht der Eltern und Erziehungsauftrag des Staates stehen gleichberechtigt nebeneinander. Aber was passiert, wenn die Schule etwas lehrt, das den Eltern missfällt – vor allem, wenn es um Sexualität und Religion geht? Ein Gastbeitrag.

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          Im Kapitel „Begattung und Befruchtung“ lesen die Eltern: „Dabei führt der Mann das versteifte Glied in die Scheide der Frau ein.“ Ihre Tochter ist gerade in die fünfte Klasse gekommen und hat das neue Biologiebuch nach Hause gebracht. Die Eltern finden, für solche Sätze sei sie zu jung; in einem gerichtlichen Eilverfahren wollen sie ihr Kind vom Sexualkundeunterricht befreien lassen. In der Stuttgarter Innenstadt drängen Tausende, halten Transparente: „Aufklärung ab 4. Klasse – wie krank sind wir?“ Gegendemonstranten marschieren auf sie zu, brüllen: „Schützt eure Kinder vor euch selbst!“ Polizisten ziehen Sturmmasken übers Gesicht und Schlagstöcke aus dem Halter, in Hundertschaften bilden sie eine Kette zwischen den Gruppen, Farbbeutel, Tomaten klatschen auf, Knüppel sausen durch die Luft, und Menschen liegen am Boden.

          Was sich liest wie eine Geschichte, sind zwei Geschichten. Die Szenen spielen im selben Bundesland, aber in verschiedenen Jahrtausenden. Die Fünftklässlerin hatte im August 1974 ihren ersten Tag im Gymnasium in Baden-Württemberg. In Stuttgart fielen die Menschen in den vergangenen beiden Jahren übereinander her, da war das Mädchen von damals schon fünfzig. Erst kürzlich haben die Gegner der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ zu einem Symposium nach Wiesbaden eingeladen.

          Ein Wettstreit um Weltanschauungen

          Und doch ist alles auch eine Geschichte. Als die Eltern des Mädchens im Biologiebuch blätterten, hatten deutsche Schulen gerade die Sexualerziehung eingeführt. In den ersten sechs Schuljahren sollten die Kinder „über die biologischen Grundtatsachen der Fortpflanzung des Menschen (Zeugung, Schwangerschaft, Geburt)“ unterrichtet werden, später sollten Themen wie „Homosexualität, Vergewaltigung, Abtreibung, Kuppelei, Verbreitung von Geschlechtskrankheiten, Triebverbrechen“ folgen. Sexualerziehung sollte nicht nur in Biologie stattfinden, sondern in allen Fächern, die sich dafür eigneten. Als gut vierzig Jahre später die Polizeiknüppel zum Einsatz kamen, lag in Stuttgart ein Papier der Landesregierung vor: die Bildungsplanreform. Danach sollte „Akzeptanz von Vielfalt“, auch sexueller, ein Thema in der Schule sein – in allen Fächern, die sich dafür eignen. In diesem Schuljahr ist die Reform in Kraft getreten.

          In beiden Fällen verwahren sich Eltern dagegen, dass der Staat sich in ihre Erziehung einmischt. Der Wettstreit um Weltanschauungen wird auch über die Schule ausgetragen – andere Beispiele sind Konflikte um Sportunterricht, Ernährung oder jüngst um den Kreuz-Anhänger einer Berliner Lehrerin. Dabei hält das Grundgesetz ganz ideologiefreie Lösungen bereit, welche die Gerichte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder angewandt haben.

          Die Eltern der Fünftklässlerin zogen gegen das Biologiebuch vors Bundesverfassungsgericht; bis dahin hatten sie in allen Instanzen verloren. Sie beriefen sich auf Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes, der die Erziehung der Kinder als „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ bezeichnet. Der Artikel bestimmt aber auch: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ In Artikel 7 heißt es: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ Erziehungsrecht der Eltern und Erziehungsauftrag des Staates – sie stehen gleichberechtigt nebeneinander. Was aber passiert, wenn Eltern und Staat unterschiedliche Erziehungsziele verfolgen?

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