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Museumspädagogik : Das ist doch kein Benehmen!

Da ruckelt sich etwas zusammen: Die Senckenberg-Anakonda wurde 1924 in Brasilien erlegt und für das Museum mit einem Beutetier im Schlund arrangiert. Bild: Sven Tränkner

Jetzt wird das unbotmäßige Tier pädagogisiert: Die ein Wasserschwein verschlingende Anakonda-Schlange im Frankfurter Naturkundemuseum ist vorerst aus dem Verkehr gezogen. Wir warten auf moralische Belehrung.

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          Nun ist sie erst mal weg, die fünf Meter lange Anakonda-Schlange, wie sie ein Wasserschwein in sich hineinwürgt, dabei den beweglichen Kiefer regelrecht über das Beutetier im Ganzen ziehend, welches allmählich im Schlund seiner Angreiferin verschwindet. Da ruckelt sich etwas zusammen, nicht nur gleichsam.

          Die monströse, bald hundert Jahre alte Dermoplastik bildet naturgemäß nur ein Phasenmoment des Schlingvorgangs ab. Umso lebhafter setzt sich die vagabundierende, von keiner Benimm-Regel angeleitete Imagination mit dem quälenden Prozess-Charakter dieser Nahrungsaufnahme auseinander. Kinder und Erwachsene, die im Frankfurter Senckenberg Naturmuseum bislang um die Vitrine herumstanden, ergänzten in der Vorstellung ganz unwillkürlich, was in der Anschauung noch fehlt. Das Museum teilt mit: „Der damalige Präparator erschuf in Abstimmung mit Senckenberg-Reptilienforschenden dieser Zeit das außergewöhnliche Arrangement von Wasserschwein und der sich in der Schlingphase befindenden Anakonda.“

          Fressen, Gefressenwerden

          Die Dermoplastik zum Thema Fressen und Gefressenwerden hat offenkundig alle verfeinernden Entwicklungen in der Empathie- und Traumaforschung robust überstanden. Das doppelleibige Ungetüm stand da vor uns wie aus einer anderen, berserkerhaften Zeit: Zwei Lebewesen auf Augenhöhe, und nichts ist bei genügend jähem Vorstoß unmöglich, anders als die neoaristotelischen Heile-Welt-Ideen nahelegen, welche hinter den Buchtiteln zur Kooperation im Tierreich stehen. Tatsache ist, die Anakonda steht im Tierreich unangefochten an der Spitze der Nahrungskette und frisst von dort aus alles, was sie als Lauerjäger überraschen und mit ihrer wuchtigen Körpermasse überwältigen kann.

          Jahrzehntelang wurde mit dem Frankfurter Exponat eine Variante von Artgerechtigkeit vorgeführt, die hochindividuell eine für alle Gesetze außer dem eigenen blind sein wollende Freiheit vorführt. Erst jetzt verschwindet dieses eigenwillige Gesamtkunstwerk von der Bildfläche. Das Museum verbreitet Galgenhumor: Nein, die Anakonda sei nicht „entflohen“, sie würde nur gereinigt und Ende April im „Zusammenspiel“ mit ihrem Beutetier wieder zu besichtigen sein.

          Doch dann auch in einem gereinigten museumspädagogischen Parcours, wie zu erwarten ist, „in einer inhaltlich und grafisch neugestalteten Umgebung“, so kündigt es das Museum an. Man wird uns auf die eine oder andere Art klarmachen wollen, dass die Anakonda kein Vorbild für den Menschen ist.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

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