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Das Recht liegt beim Richter : Der Richterkönig lebt!

  • -Aktualisiert am

Ein Urteil soll endgültig sein. Ist es deshalb auch frei von Kritik? Bild: Picture-Alliance

Urteilskritik, ein wichtiges Korrektiv der Richtermacht, wird an deutschen Gerichten wenig geschätzt. Die Richter sitzen lieber über sich selbst zu Gericht. Ein Gastbeitrag.

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          Deutsche Gerichte entscheiden in den meisten Fällen gut begründet und wenig angreifbar. Es soll hier deshalb nicht um die Qualität der Justiz gehen, sondern um die Kritik an den seltenen rechtlichen Missgriffen - und um den Umgang der Justiz mit dieser Kritik.

          Gerichtsentscheidungen werden unterschiedlich diskutiert und kritisiert. Berichtende „Kritik“ stellt dar, weist auf Konsequenzen hin, verzichtet indes auf Opposition - bei höchstrichterlichen Urteilen gespeist aus der Erfahrung, dass Widerspruch wenig bringt: roma locuta, causa finita. Auf der anderen Seite steht die streitige Kritik, die dem Urteil Denk- und Begründungsfehler vorhält, Systemwidersprüche sieht oder Grenzen der Richterkompetenz überschritten sieht. Sie kann vornehm-zurückhaltend oder saftig-offensiv formuliert sein. Das ist eine Stilfrage, die eigene Kontroversen auslöst.

          Selbstbindung statt Gesetzesbindung

          Der luzide Rechtslehrer Manfred Lieb meinte gegenüber einem kritikwürdigen Arbeitskampfurteil des Bundesarbeitsgerichts, hier sei Justitia die Binde verrutscht. Dafür hat er sich den Vorwurf eingefangen, zur Jagd auf den damaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts zu rufen. Halali! So mimosenhaft reagieren Richter und ihre Sekundanten. In dieser Zeitung (F.A.Z. vom 30. April) kritisierte ein Berliner Richter den Bundesrichter Thomas Fischer, weil dieser ohne Robe, als Zivilist, seine persönliche Meinung in derben Worten kundtat. Auslösende Formulierung war die „braune Schleimspur“, auf der Fischer die Anwender des Mordparagraphen wähnt. Der Rechtsprofessor Holm Putzke kritisierte ein (haltloses) Urteil eines Landgerichts als „übles Beispiel pseudogerechter Juristerei“. Ich selbst habe ein (inzwischen korrigiertes) Mietrechtsurteil des Bundesgerichtshofs als „Gefühlsrecht“ abgetan.

          Ablehnungshaltung: Kritik am eigenen Urteil wird immer seltener wirklich zugelassen.
          Ablehnungshaltung: Kritik am eigenen Urteil wird immer seltener wirklich zugelassen. : Bild: dpa

          Wenn sich letztinstanzliche Richter über bislang eindeutig verstandene Gesetze hinwegsetzen, soll das keine Rechtsbeugung, sondern „Rechtsfortbildung“ sein. Die verfassungsrechtliche Bindung des Richters an das Gesetz ist für höchste Richter Makulatur. Sie entscheiden selbst, wie das Gesetz zu verstehen ist, an das sie gebunden sind. Ganz frei ist das Bundesverfassungsgericht, aber auch Bundesgerichte werden selten von ihm kontrolliert - überdies in mitunter schwer nachvollziehbarer Differenzierung. Alle stehen unter dem Gesetz, nur die hohen Richter nicht. Gesetzesbindung heißt hier Selbstbindung. Der von der Freirechtsschule einst geforderte vordemokratische Richterkönig lebt. Er betreibt Ersatzgesetzgebung, ohne gewählt zu sein und ohne abgewählt werden zu können. Der Rechtslehrer Bernd Rüthers hat die gesellschaftlichen und systemischen Folgen eines undemokratisch-oligarchen Richterstaats eindringlich geschildert. Diese übergroße Macht wird vom System nicht eingehegt.

          Die Streitbarkeit des Rechts

          Wenn Richter politisch entscheiden, dann müssen sie es als politische Akteure ertragen, in einem politischen Meinungskampf angegriffen zu werden. Die scharfe Justizkritik ist das letzte Aufbäumen vor punktuell überbordender Richtermacht, die der Maxime folgt: „weil ich es kann“. Gerichte betonen den Wert der Meinungsfreiheit und ihre Bedeutung für die Demokratie; Justizkritik meinen sie damit selten. Justizkritik hat indes eine demokratische Funktion. Sie deckt Schwächen der Dritten Gewalt auf, die ihrerseits demokratisch nicht kontrolliert wird. Krasse Fehlurteile haben keine Folgen - für den Richter. Dessen Unabhängigkeit ist auch in der Ignoranz geschützt. Dass Bundesverfassungsrichter Urteile unterschreiben, ohne die Akte gelesen zu haben, und deswegen die Entscheidung am Fall vorbeigeht, ist nur mit zynischem Spott („Karlsruher Leseschwäche“) zu ertragen.

          Kontrolliert das Bundesverfassungsgericht Urteile unzureichend?
          Kontrolliert das Bundesverfassungsgericht Urteile unzureichend? : Bild: dpa

          Richter begegnen Kritik oft erstaunlich wenig souverän. Selbst im Schweigen ist Zähneknirschen zu vernehmen. Das hat mit der Sozialisation im Rechthaben zu tun, aber auch damit, dass für den Richter das Urteil der Schlusspunkt seines langwierigen und gewiss ernsthaften Denkprozesses ist. Mimosenhaftigkeit ist nicht selten. Vielfach wird streitbare Kritik wegen ihres Stils zurückgewiesen. So braucht der kritisierte Richter auf das Sachargument nicht einzugehen. Das ist ein Kunstgriff aus der eristischen Dialektik. Dem Gegner wird Diffamierungsabsicht, ja der Wille zu persönlicher Verletzung unterstellt, um den Streit ad personam austragen zu können und von der Sachfrage abzulenken. Formuliert der Kritiker sanft und zurückhaltend, menschlich verständnisvoll und fachlich konstruktiv, so geht dies im akademischen Grundrauschen unter. Wissenschaftler, also die Juristen an deutschen Universitäten, sind nicht minder empfindlich. Vorbei die Zeiten, in denen akademische Buchbesprechungen an ein Schlachtfest erinnerten. Heute sind Zitate Ergebenheitsadressen, Affront ist nur das Nichtzitiertwerden.

          Argumentative Selbstversorgung

          Vergessen ist, dass Polemik als Stilmittel besonders Kritikwürdiges angreift. Polemik zeigt Leidenschaft, bedingt sprachliche Schärfe und stilistische Kunst. Polemik tut weh, weil sie intelligent und ein wenig boshaft ist. „Man soll an seine Schriften keinen Essig tun. Man soll Salz hineinstreuen“ (Montesquieu). Große Polemiker sind gut zu lesen - besser als die Texte der Gegenkritik, die blutleer daherkommen, „konstruktiv“ sind, aber Leidenschaft vermissen lassen. Dabei bringt erst die kühne Antithese den Fortschritt und schärft das Denken. Heraklits polemos ist nicht der Krieg, sondern der Kampf: „Recht ist Streit, und erzeugt wird alles zwieträchtig.“ Die deutsche Rechtswissenschaft hat ihre Beinaheperfektion im „Kampf ums Recht“ (Rudolf von Ihering) entwickelt. Leidenschaftlicher Streit um das richtige, systematische und dogmatische Recht bringt in aller Regel gute Ergebnisse und hilft bei der Fehlerkorrektur. Beleidigtsein zielt auf Diskursverweigerung.

          Kommen die Argumente für das Urteil eher aus den eigenen Abhandlungen, als aus den Gesetzesbüchern?
          Kommen die Argumente für das Urteil eher aus den eigenen Abhandlungen, als aus den Gesetzesbüchern? : Bild: dpa

          Argumentative Selbstversorgung ersetzt zunehmend die wissenschaftliche Kritik: Richter schreiben Aufsätze und Kommentierungen. Das ist argumentativ gut, wenn es die besondere Sicht des richterlichen Praktikers einbringt. Das missrät, wenn die Eigenstimme nicht ergänzen, sondern verdrängen will. Im Urteil zitiert wird das eigene oder das Kollegenwerk. Ein Senat des Bundesarbeitsgerichts belegt ein zentrales Argument mit einer Abhandlung des eigenen Vorsitzenden, veröffentlicht in einer Festschrift für den ehemaligen Gerichtspräsidenten: nordkoreanische Selbstverehrung. Mitunter veröffentlichen Richter rechtzeitig vor einer Entscheidung ihrer Kollegen „passende“ Fachaufsätze - wie bestellt.

          Autopoiesis der Rechtsprechung

          Wird gegen eine Rechtsprechungslinie fulminanter Einspruch aus der Literatur erhoben, so kann es geschehen, dass Richter des Spruchkörpers ihr eigenes Urteil in einem Aufsatz verteidigen; auch springen ihnen Richterkollegen bei. Dort, wo die Auseinandersetzung mit der Kritik von Amts wegen hingehört, nämlich in die nächste Entscheidung des Gerichts zu dieser Rechts- und Sachfrage, dort findet die Auseinandersetzung nicht statt. Da kann man lesen, dass es der Senat schon länger so hält, und es werden die Literaturstimmen der bejahend verteidigenden Richterkollegen zitiert. Nichts ist dagegen zu sagen, wenn Urteile wenig zitieren. Das ist Stilfrage. Obszön wird es, wenn nahezu ausschließlich Richterautoren zitiert werden. Bescheidener Zitatverzicht und Eitelkeit sind beieinander. Diskurszirkel zwischen Richtern und Wissenschaftlern besprechen wichtige Fragen vor; sie münden in wechselseitige Zustimmung. Das Gericht zitiert den Wissenschaftler, und dieser begrüßt die Entscheidung. So geht Autopoiesis.

          Daneben wirken Bundesrichter als Herausgeber juristischer und meist renommierter Fachzeitschriften. So können sie Einfluss darauf nehmen, was wo publiziert wird. Schriftleiter nehmen eine Höflichkeitsbindung an. Wie Kollegen berichten, werden sie gelegentlich um Entschärfung des Beitrags gebeten, der den Gerichtssenat kritisiert, dem ein Herausgeber der Zeitschrift angehört.

          Kritik wird ausgeblendet

          Der Europäische Gerichtshof ist ein Sonderfall. Er nimmt schon aus sprachlichen Gründen wissenschaftliche Stimmen aus den Mitgliedstaaten eingeschränkt wahr und schöpft seine Urteile überwiegend aus sich selbst, daneben aus dem Antrag des Generalanwalts und dem Vortrag der Verfahrensbeteiligten. Dabei wird seine Rechtsprechung vielfach als inkonsistent und argumentativ defizitär kritisiert. Ihm macht das nichts.

          So entsteht die Gefahr, dass Richter sich in einem mentalen Wandlitz einrichten, eine durch Ausblenden verschönte Diskursumgebung wahrnehmen und Umweltresonanz nurmehr in Familie und Freundeskreis erfahren. Zieht man der Kritik die Zähne, so verliert sie ihren Biss. Der Leser ist gelangweilt.

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