Nach der Skandal-Documenta : Juden in Deutschland fühlen sich nicht sicher
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Das Bild, das von der Documenta fifteen bleibt: Eine Installation des Kollektivs Taring Padi aus Indonesien wurde wegen antisemitischer Darstellungen erst mit schwarzem Tuch verhüllt und kurze Zeit später, wie hier zu sehen, ganz abgebaut. Bild: dpa
Eine Erhebung der Recherchestelle Antisemitismus Hessen hat ergeben: Juden in Deutschland fühlen sich nicht sicher. Der Umgang mit dem Skandal um die Documenta 15 hat dazu erheblich beigetragen.
Der Antisemitismus-Skandal der Documenta 15 im vergangenen Jahr in Kassel hat bei Jüdinnen und Juden in Deutschland zu einem eklatanten Vertrauensverlust geführt. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Auswertung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen RIAS in Marburg.
Der Zentralrat der Juden, das American Jewish Committee und andere jüdische Organisationen hatten frühzeitig Bedenken geäußert und auf drohende Gefahren hingewiesen, Briefe geschrieben und Gespräche geführt, woran Daniel Neumann, Direktor des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen, in der Dokumentation nochmals erinnert: „Doch alle Anstrengungen blieben erfolglos.“ Vielmehr wurden die Hinweise von der Documenta zurückgewiesen; jüdische Stimmen wurden entweder überhört, oder es wurde mit Beschwichtigungen reagiert.
Es geht und ging um konkreten Antisemitismus
„Dabei ging und geht es um konkreten Antisemitismus“, wie RIAS-Projektleiterin Susanne Urban bei der Vorstellung der gut 130 Seiten umfassenden Publikation hervorhob. Allen Erinnerungsstrategien und Gedenktagen zum Trotz finde in Deutschland kein aufrichtiger Umgang mit Antisemitismus statt, kritisierte sie. Urban fordert eine Debatte darüber, was die Verbreitung von Antisemitismus in Wort und Bild tatsächlich anrichtet.
Die RIAS-Publikation „Documenta fifteen – Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten“ ist informativ und versammelt neben einer ausführlichen Rekonstruktion der Kasseler Vorfälle auch Ausführungen zu den damit einhergehenden Themen wie der Frage nach den Verantwortlichkeiten von Stadt, Land und Bund sowie den NS-Verstrickungen der Documenta-Gründerfiguren, Joseph Beuys’ Schoa-Relativierungen und der Rolle des BDS bei der Documenta im Speziellen wie der zeitgenössischen Kunstszene überhaupt. Daneben gibt es Gastbeiträge, etwa vom Historiker Julius H. Schoeps, dem in Israel geborenen und in Berlin lebenden Rapper Ben Salomo und Natan Sznaider, der, 1954 in Mannheim zur Welt gekommen, heute als Soziologe an der Universität Tel Aviv lehrt.
In Sznaiders jüngstem Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“, das 2022 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert wurde, beschäftigt sich der Autor mit der Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Als Visiting Fellow der Universität München im Sommer 2022 konnte er die Documenta aus nächster Nähe erleben. In der RIAS-Broschüre moniert er die Naivität der Kasseler Akteure, die nur vorgespielt gewesen sein könne, da in der Findungskommission Leute saßen, die genau wussten, was sie taten und was geschehen würde, wenn man den Dingen ihren Lauf lassen würde – und die es womöglich gar, so Sznaider, „auch darauf anlegten“.
Für Deutschland hat er ernüchternde Zahlen parat: Der Antisemitismus sei seit dem Ende der NS-Zeit nie verschwunden, sondern bei konstant 20 Prozent der Bevölkerung anzutreffen. „Er war immer da“, sagt der Soziologe, und dass man das wissen müsse – auch als Jude: „Damit muss man leben. Und wenn man nicht damit leben will, dann muss man weggehen aus Deutschland.“