New York steht still: Leerer Times Square Bild: Reuters
Das Coronavirus lässt in Nordamerika die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen: Was passiert tatsächlich, was ist Film, und wo begegnen sie sich? Aufzeichnungen aus dem Kellerloch einer amerikanischen Millionenstadt.
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Als ich dies schreibe, sind bereits 8141 Menschen an Covid-19 gestorben, und Tausende weitere, hoffentlich nur Tausende, werden noch sterben, bevor ein Impfstoff entwickelt und verfügbar gemacht wird. Ich sitze zu Hause, hier in New York, und beobachte, wie die Zahlen steigen, „in Echtzeit“ oder so „echt“, wie Zeit nun erfahrbar wird: 8142, 8143, 8144. Das ist wohl meine Aufgabe. Zu Hause zu sitzen und auf Zahlen schauen. Niemand hat mir befohlen, das zu tun. Niemand hat mir Anweisungen gegeben. Die Stadt- und Bundesstaatsregierungen haben nur die Bars und Restaurants, Museen und Galerien, Konzertsäle und Theater geschlossen und erwarten, dass dies ausreicht, um mich und acht Millionen Nachbarn von den Straßen fernzuhalten.
Es heißt jetzt, dass eine Quarantäne unmittelbar bevorstehe. Sie beginnt Montag oder Dienstag oder Mittwoch, definitiv Mittwoch um 12 Uhr, definitiv Mittwoch um 17 Uhr. Man sagt, die Armee werde anrücken, um die Quarantäne durchzusetzen und/oder infizierte Bereiche zu desinfizieren und/oder Teststellen und Feldkrankenhäuser zu errichten und/oder unser Bio-Gemüse an die Haustür zu liefern wie die Fahrradkuriere von Amazon oder Whole Foods, nur dass ihre Fahrräder Panzer sind.
Niemand weiß, auf wen er hören soll
Was noch? U-Bahn und Busse würden niemals ausgesetzt, heißt es, weil sie von Krankenhausmitarbeitern benutzt werden. Dann: Die Nutzung der U-Bahn und der Busse werde auf Krankenhausangestellte beschränkt. Und was sollen die tun? Vielleicht einfach in den Krankenhäusern leben, so wie die Patienten, zu denen sie unweigerlich werden?

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Falls das alles nicht klar genug war, lassen Sie es mich noch einmal versuchen: Es gibt überhaupt keine Klarheit. Niemand in New York weiß, auf wen er hören soll, wir wissen nur, auf wen wir nicht hören sollten: Trump. Aber wir sind uns noch immer nicht sicher, ob nicht auf Trump zu hören auch bedeutet, dass wir nicht auf seine Stellvertreter hören sollten. Die beiden jetzt in den Nachrichten präsentesten kannte vor einer Woche noch keiner: Der schmierige und juristisch versierte Alex Azar, offenbar unser Gesundheits- und Arbeitsminister, war früher Pharma-Manager und Pharma-Lobbyist. Und unser Sanitätsinspekteur, Vizeadmiral Jerome Adams, offenbar ehemaliger Gesundheitskommissar in Indiana unter Mike Pence, als der heutige Vizepräsident noch Gouverneur von Indiana war, wirkt wie ein billiger Fitness-Trainer auf einem sinkenden Kreuzfahrtschiff.
Die beiden Mitwirkenden dieser Reality-Show, die mir am besten gefallen, sind Dr. Anthony Fauci, Leiter des Bundesamts für Infektionskrankheiten, der aussieht und klingt wie Don DeLillo („Das schlimmste Szenario ist, dass Sie entweder nichts tun oder dass Ihre Maßnahmen zur Eindämmung nicht erfolgreich sind“), und Dr. Robert Redfield, Leiter der Seuchenschutzbehörde, der mit Abe-Lincoln-Bart redlich wirkt. Das sind die Leute, die von meinen Bildschirmen zu mir sprechen, ich bemühe mich, keine Widerworte zu geben. Ich lebe allein und habe keine Haustiere, nicht einmal eine Fledermaus oder ein Schuppentier. Diese Leute sind meine einzige Gesellschaft.