Flachliegende aller Welt, vereinigt euch!
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Hauptsache, die Ruhe von Körper und Seele bewahren, ob im Büro oder im Möbelhaus: In China nahm die inzwischen weltweite Bewegung gegen die bisherige Arbeitskultur ihren Ausgang. Bild: Getty
Wozu die ganze Mühe, wenn die Zukunft so ungewiss ist? Seit der Pandemie wird in Ländern wie China, Amerika und zunehmend auch Deutschland ein Zweifel an der bisherigen Arbeitskultur laut.
Als im April 2021 ein 26 Jahre alter chinesischer Fabrikarbeiter mit dem Nutzernamen „Gutherziger Reisender“ im Internetforum „Tieba“ verriet, dass er seinen Job gekündigt hatte, um eine 2000 Kilometer lange Fahrradtour von Sichuan nach Tibet zu unternehmen und seither ein Leben ohne größere Ausgaben zu führen, kam eine Bewegung in Schwung, die mittlerweile über alle Systemgrenzen hinweg große Teile des Globus erfasst hat. In China ist die Bewegung nach dem Ausdruck benannt, den der Blogger selber seiner Aktion gegeben hatte: Tang Ping, zu Deutsch etwa: flachliegen oder liegen bleiben. „Tang Ping ist meine weise Bewegung“, hatte der „Gutherzige Reisende“ geschrieben: „Nur durch Tang Ping können Menschen das Maß aller Dinge werden.“ Anstatt sich nach den üblichen Maßstäben für Erfolg zu richten, halte er sich bloß mit Erspartem und Gelegenheitsarbeiten über Wasser und erfreue sich ansonsten wie Diogenes an der Sonne und denke „über den Logos“ nach.
Mit dem Ausmaß der Reaktionen hätte niemand rechnen können. Innerhalb kürzester Zeit wurde Tang Ping zu einem der prominentesten Stichworte, die im chinesischen Internet kursieren. Es war, als hätte ein schon lange schwelendes Grummeln plötzlich sein entfesselndes Zauberwort gefunden: Warum nicht einfach liegen bleiben, statt sich in letztlich sinnloser Mühe aufzureiben? Tausende teilten im Netz ihre eigenen Erfahrungen mit: eine Angestellte, die sich nicht länger am Kampf um Beförderungen beteiligen will, da sie von nun an „Frieden und Ruhe des Körpers und der Seele priorisiert“; ein Paar, das aus der Großstadt Hangzhou auf die Insel Hainan zog und dort ein kleines Café aufmachte; andere, die ihre gut bezahlten Jobs kündigten und ihre teuren Eigentumswohnungen in der Metropole vermieteten, um in ihren kleineren Heimatorten eine günstige Mietwohnung zu beziehen. Auf der Website Douban konstituierte sich eine Tang-Ping-Gruppe, die einen „Leitfaden zum Flachliegen in sieben Schritten“ entwarf. Die eigenen Schwächen akzeptieren, anstatt sich optimieren zu wollen, gehört dazu.
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