Mobilmachung als Regierungsmethode
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Dem Sieg ordnet er alles übrige unter: Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Besuch auf dem Weltraumbahnhof Wostotschnyj in Ostsibirien im April 2022. Bild: Getty
Putins Perestroika: Russlands Herrscher hat den russischen Staat planmäßig auf seine autokratische Urgestalt zurückgebaut. Er verschiebt Grenzen und bedroht jeden, der mit ihm nicht einverstanden ist. Ein Gastbeitrag.
Der junge Tschechow schrieb eine humoristische Erzählung über einen Franzosen, der in einem Moskauer Wirtshaus sieht, wie russische Kaufleute Berge von Bliny mit schwarzem Kaviar verputzen. Er glaubt, sie seien entweder verrückt geworden oder beabsichtigten, sich durch eine Darmverschlingung das Leben zu nehmen – doch nein, sie waren es schlicht gewohnt, so zu speisen.
Dasselbe geschieht gerade bei der westlichen Analyse von Putins Russland. Aus der Perspektive des Westens vernichtet Putin faktisch den russischen Staat. Zumal seit Beginn der Invasion der Ukraine. Er zerstört sämtliche Grundlagen, auf denen ein moderner zivilisierter Staat existieren kann. Er bricht alle Gesetze von Krieg und Frieden, er führt seine Regierung heraus aus dem rechtsstaatlichen Raum. Er hat sich weidlich über europäische Staatenlenker lustig gemacht, ihnen ins Gesicht gelogen, am Telefon einen Bären aufgebunden, und jetzt wischt er alle Anschuldigungen beiseite, für den Mord an friedlichen ukrainischen Bürgern und die gezielte Zerstörung von Städten im Nachbarland verantwortlich zu sein. In Unkenntnis der russischen historischen Tradition kommt man im Westen empört zu dem Schluss, er sei ein Wahnsinniger, ein Kriegsfanatiker, dabei stillt er in Wirklichkeit – wie die Kaufleute in Tschechows Erzählung – auf diese Weise einfach seinen Appetit, im gegebenen Fall den Appetit der russischen autokratischen Staatsmacht.
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