https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/proteste-in-frankreich-wer-ist-schuld-an-der-gewalt-18760231.html

Proteste in Frankreich : Auf die Barrikaden

  • -Aktualisiert am

Nach Protesten: In der Nacht auf Freitag löschen Feuerwehrleute ein Feuer in der Nähe des Concorde-Platzes. Bild: dpa

Der französische Präsident hat sein Versprechen gebrochen, auf andere Art Politik zu machen. Aber ist ein arroganter, vertikaler Politikstil gleich gewalttätig? Der Sinn der Behauptung ist durchsichtig.

          2 Min.

          Nach Emmanuel Macrons Entscheidung, die Rentenreform mittels Vertrauensfrage durch die Nationalversammlung zu bringen (Anwendung des Verfassungsartikels 49.3), um eine zweite Abstimmung zu vermeiden, ist Frankreich in den Aufstandsmodus gewechselt. Straße und Talkshows brennen, die eine im wörtlichen, die anderen im übertragenen Sinn. Die hitzigen Debatten laufen ethisch und rhetorisch auf eine Frage zu: Wer ist schuld an der Gewalt?

          Kritiker sehen in der Anwendung von Artikel 49.3 „symbolische Gewalt“: Zwar handle der Präsident verfassungsgemäß, missachte aber den Willen des Volkes – das die Reform zu zwei Dritteln ablehnt –, wenn er keine Abstimmung seiner Vertreter zulasse; selbst wohlmeinende Kommentatoren meinen, dass Macron der Demokratie einen Gefallen getan hätte, wäre er das Risiko eingegangen.

          Marine Le Pens Rassemblement National setzt einen drauf und verlangt eine Volksabstimmung über die Reform. Die habe Macron im Wahlkampf versprochen, behauptet auch Sandrine Rousseau (Grüne); falsch, er hatte sie nur nicht ausgeschlossen. Der Vorwurf wiederholt sich: formaler Verfassungsrespekt in undemokratischem Geist. Richtig ist: Partizipativ ist Macrons Amtsführung nie gewesen, neue Formen der Mitbestimmung dienen als Feigenblätter, die Kompromisse mit der bürgerlichen Rechten fallen unter das gewohnte Geschacher; insofern hat er sein Versprechen, auf andere Art Politik zu machen, gebrochen. Aber ist ein arroganter, vertikaler Politikstil gleich gewalttätig? Der Sinn der Behauptung ist durchsichtig: Sie rechtfertigt brennende Paletten, Mülltonnen und Autos als Gegengewalt.

          Macrons Kritiker erklären allerdings nicht, inwiefern die unzähligen Änderungsanträge der Opposition, die eine wirkliche Parlamentsdebatte zur Reform bei erster Lesung verhindert hatten, nicht auch schon symbolische Gewalt waren – ebenso wie die „Marseillaise“, mit der die Abgeordneten des Linksbündnisses NUPES die Rede von Premierministerin Élisabeth Borne zu übertönen suchten. Einig sind sich Politiker und Journalisten in ihrer Beunruhigung darüber, wie kurz die Straße davorsteht, von der symbolischen zur realen Gewalt zu wechseln: In Dijon wurden am Donnerstag Puppen mit Gesichtern von Macron und Reform-Ministern verbrannt; Abgeordnete und ihre Mitarbeiter werden bedroht und stehen unter Polizeischutz; Samstag Nacht wurde das Abgeordnetenbüro von Reformbefürworter Éric Ciotti in Nizza verwüstet.

          Angesichts der für diese Woche angekündigten Proteste fürchten Kommentatoren soziale Unruhen: In den Medien ist von einer „gilet-jaunisation“ die Rede, von einer „Gelbwestisierung“ der Proteste. Der Neologismus zeigt: In der Sprache ist die Gewalt längst angekommen. Wo stecken die Ordnungshüter der Académie française eigentlich, wenn man sie braucht?

          Weitere Themen

          Alter, woker, weißer Mann

          FAZ Plus Artikel: Schwarzenegger auf Netflix : Alter, woker, weißer Mann

          Und schon die nächste Netflix-Serie mit Schwarzenegger: In der Doku „Arnold“ erzählt der Bodybuilder, Schauspieler und Politiker, wie er wurde, was er ist – und sagt richtige Dinge über die schlechten Dinge, die er in seinem Leben getan hat.

          Topmeldungen

          Am „Tag X“ : Schwere Ausschreitungen in Leipzig

          Für den „Tag X“ hatten linksradikale Gruppen zur Demonstration in Leipzig aufgerufen. Der Samstag war zunächst weitgehend friedlich, bevor am Abend die Lage abermals eskalierte.
          Olaf Scholz auf dem Gipfel der Europäischen Politischen Union in der Republik Moldau, einen Tag, bevor die AfD in einer Umfrage mit seiner SPD gleichzog.

          Olaf Scholz und die AfD : Kanzler des Streits

          Mit einer Politik des Respekts wollte Olaf Scholz die AfD kleinmachen. Jetzt sind die Extremisten in den Umfragen so stark wie selten zuvor. Wie konnte es so weit kommen?
          Uwe Rathausky, Marcus Hüttinger und Henrik Muhle (v.l.) leiten gemeinsam die Gané AG.

          Fondsanlage : Drei Mann, sieben Milliarden Euro

          Das schafft nicht jeder: Im beschaulichen Aschaffenburg gründen Freunde eine Investmentgesellschaft – mitten in der Finanzkrise 2008. Sie sammeln von Sparern Milliarden ein. Dabei hilft ihnen eine gewisse Sturheit.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.