
Vulnerabilitätskonzepte : Wer bestimmt politisch, wer verletzlich ist?
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Zelte von Obdachlosen in Düsseldorf Bild: Picture-Alliance
Die sozialpolitische Bestimmung, wer als verletztlich Schutz und Subvention bekommen soll, ist lobbyistisch geprägt. Und immer neue Benachteiligungen, ungedeckte Bedürfnisse, Glückseinbußen und Anfälligkeiten machen sich bemerkbar.
Verletzlichkeit ist die Leitvokabel der neuen Normalität. Hinter der medizinisch virulenten Frage, wer zu den Verwundbaren, den Vulnerablen, zählt, setzt sich der sozialpolitische Verteilungskampf fort. Der Soziologe Stephan Lessenich, Autor des Buches „Grenzen der Demokratie – Teilhabe als Verteilungsproblem“, beschreibt die Lage wie folgt: „Souverän ist heute, wer über den Verwundbarkeitszustand entscheidet. Und das sind nicht die Verletzlichen selbst.“
Die politische Bestimmung dieser Verletzlichen orientiert sich aus guten Gründen einerseits an einem physiologisch-psychiatrischen Risikoschema, zum anderen an sozialen Risikofaktoren wie Armut und Gewalterfahrungen. Doch geht es bei den konkreten sozialpolitischen Konflikten keineswegs so evidenzbasiert zu wie oft behauptet. Lessenich wird stutzig: „Müssten dann nicht eigentlich die Menschen in den Flüchtlingslagern an der europäischen Peripherie ganz vorne rangieren auf der sozialpolitischen Prioritätenskala?“ Tun sie aber nicht. Stattdessen wird Verwundbarkeit, unterstützt von den Handreichungen des Deutschen Ethikrats, in einem strikt „nationalfixierten Rahmen“ (Lessenich) definiert, und auch innerhalb dieses Rahmens bleibt die sozialpolitische Agenda lobbyistisch geprägt: Verwundbar ist, wer zu uns, zu unserer jeweiligen Minderheit gehört.
Wer auf dieser Linie Willkür und faktische Verengung des Vulnerabilitätskonzepts tadelt, kann nun aber auf der anderen Seite nicht dessen exzessive Ausweitung beschweigen. Immer neue Benachteiligungen, ungedeckte Bedürfnisse, Glückseinbußen und Anfälligkeiten machen sich im politischen Zeichen der Verwundbarkeit bemerkbar. Der Psychiater Asmus Finzen erblickt darin die Schlagseite von Normalitätsannahmen, die das Unperfekte am Mängelwesen Mensch, seine konstitutionelle Verletztlichkeit, für anormal erklären. Als sei das Ausgesetztsein nicht gerade unsere gattungsspezifische Normalität. Tatsächlich bemisst sich die gebotene sozialpolitische Sensibilität denn auch nach dem Gerechten und nicht nach dem Normalen.
„Das Normale und das Nichtnormale lassen sich nicht an definierten Inhalten festmachen. Aber sie eignen sich hervorragend zum Abstempeln von Situationen und Personen – und vor allem zum Festzurren von Vorurteilen“, schreibt Finzen in seinem Band „Normalität – Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft“. Stigmatisierung droht immer dann, wenn die anthropologische Kategorie der Verletzlichkeit politisch ausgemünzt werden soll. Doch niemand braucht sich als Versehrter unnormal vorzukommen. Wohl darf sich jeder ungerecht behandelt fühlen, dem seine Versehrtheit normalerweise zum Nachteil ausschlägt. Hier lassen sich Rechte geltend machen, die auf die Gleichbehandlung aller Verletzlichen zielen. Dass Letztere dabei nicht etwa selbst über ihren Verwundbarkeitszustand entscheiden können, hat der Souverän zu Recht verfügt.