Plädoyer für eine Algorithmen-Ethik : Relevanz ist alles
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Begeistert von den Möglichkeiten ist nicht nur die Werbeindustrie, die Nutzer sind es auch; schließlich wurde nicht einer der 800 Millionen Kunden von Facebook gezwungen, einen Account zu eröffnen und diesen täglich im Durchschnitt zwanzig Minuten zu nutzen. Ebenfalls freiwillig legen Nutzer eine Location für ihr Lieblingscafé auf Foursquare an, um aller Welt mitzuteilen, wo sie sich gerade befinden. Oder sie laden ihre Joggingstrecken ins Internet, um alle Welt genau zu informieren. Die Menschen lieben diese Services und füttern die Algorithmen und Datenbanken mit großer Begeisterung, häufig übrigens nicht trotz der Datenschutzprobleme, sondern gerade weil sie ihre Daten mit aller Welt teilen wollen.
Bei der Frage nach dem Warum muss man trotzdem nicht unbedingt zum Kulturpessimisten werden. Es sind ein paar ganz einfache Prinzipien, die hinter diesem Verhalten stecken, eigentlich nur ein einziges, mit dem man das meiste erklären kann: Relevanz. Relevanz ist der Grund, warum man immer häufiger Menschen mit der Zeitung auf dem Schoß in der Bahn sitzen sieht, während sie ihr Mobiltelefon darüber halten und durch den Twitter-Stream blättern. Relevanz ist der Grund, warum inzwischen mehr Hotels über Empfehlungsplattformen gebucht werden als über alle Reisebüros zusammen. Und Relevanz ist auch der Grund, warum Leser gut gemachte personalisierte Nachrichten-Websites irgendwann den klassischen Angeboten vorziehen werden.
Wir brauchen eine Algorithmen-Ethik
Deshalb brauchen wir eine Diskussion über Mechanismen zur Kontrolle von Algorithmen, so, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Diskussion gab, die zur Einführung von Sicherungsmechanismen für Pluralität, Meinungsfreiheit und vor allem eine freie Presse geführt hat. Und wenn die 68er-Lehrergeneration ihren Schülern durch Zeitungsanalyse mit Schere und Textmarker beigebracht hat, wie Meinung gemacht wird, müssen die Schüler in der Zukunft verstehen lernen, warum sie auf ihrem Computer eine andere Nachrichtenlage sehen werden als ihr Tischnachbar.
Folgte man den Ausführungen des amerikanischen Politikprofessors Eben Moglen auf der diesjährigen re:publica-Konferenz in Berlin, dann sollte man nicht nur verstehen, wie die Algorithmen funktionieren, sondern noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob eine freie Medienlandschaft überhaupt langfristig gesichert werden kann, wenn jeder Lesevorgang in einer Datenbank landet und missliebige Bücher, Apps oder Artikel von den Unternehmen bereits per Fernzugriff entfernt oder geändert werden können.
Selbst wenn man diese radikale Sicht nicht teilt und sich dem Charme der algorithmisch gesteuerten Morgenzeitung hingibt, wenn wir im Fernsehduell akribisch zählen, wie viele Minuten Redeanteil auf einen Kandidaten entfallen, dann kann es uns nicht egal sein, wenn die politische Berichterstattung flächendeckend von einer unbekannten Zahl von Algorithmen gesteuert wird, deren Prinzipien wir nicht kennen und auch nicht kontrollieren können. Deswegen brauchen wir eine Algorithmen-Ethik.