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Neue Serie „Wildwechsel“ : Wege der Kitzrettung

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Die ersten sechs Wochen seines Lebens ist es von keiner noch so feinen Nase aufzuspüren: Rehkitz am Feldrand. Bild: Picture-Alliance

Möglichst bewegungslos im hohen Gras: Was Rehkitze vor Raubtieren schützt, macht sie zehntausendfach zum Opfer von Mähmaschinen. Um sie zu retten, arbeiten Landwirte und Jäger zusammen – und Freiwillige.

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          „Hörst du die Feldlerche singen?“, fragt Wildmeister Hildebrandt. Er lenkt den Pickup im Schritttempo über den staubigen Ackerweg. Acht Tage am Stück müsste es durchregnen, wenn es nach den Bauern ginge. Der Boden hat tiefe Risse, so trocken ist es. Was braucht die Feldlerche, warum singt sie hier und nicht woanders? Es gibt Insekten. Maisäcker werden von Wildschweinen geliebt, nicht von Insekten, darum hat der auf Artenschutz bedachte Bauer hier in einen vierhundert Meter breiten Maisacker eine acht Meter breite Schneise geschlagen. In ihr legte er eine sogenannte „Beetle Bank“ an. Auch auf der anderen Seite im Hang, wo sein Weizen wächst, hat er einen solchen Grünkräuter-Blumenwiesen-Teppich gesät. Die Beetle Bank bietet nicht nur den Insekten ein Habitat, sie stellt den Ricken, Hasen und Rebhühnern die perfekte Wiege für ihren Nachwuchs, voller Futter bei geringer Lebensgefahr. Im Mai ist Brut- und Setzzeit. Der Nachwuchs von Bodenbrütern, Hasen und Wild kommt zur Welt. Im Mai ist auch Mähzeit.

          Nur auf den ökologischen Ausgleichsflächen ist es erst nach Ablauf der Brut- und Setzperiode erlaubt, zu mähen. Wer aber Silage machen will oder Heu, mäht jetzt ein erstes Mal. Darum gilt die Sorge aller Jäger und Bauern dem Jungwild. Es hat natürliche Feinde, schlimmer aber ist der auf einem meterhohen Traktor mit Kreiselmäher thronende Mensch. Die Mähbreite mit vorderem Schneidwerk und seitlichen Auslegern kann mehr als zwanzig Meter betragen, die Geschwindigkeit zwanzig Stundenkilometer. Der Herr über bis zu achthundert PS kann bei diesem Tempo und der Größe des bearbeiteten Ackerabschnitts kein Kitz rechtzeitig entdecken. Das Kitz seinerseits praktiziert regungsloses Verharren – eine gute Technik, um nicht vom Habicht geholt zu werden, eine schlechte Taktik gegenüber dem Mäher. Darum werden jedes Frühjahr Zehntausende verstümmelt oder getötet.

          Lärm gegen den Tod

          Warum legt das Reh sein Kitz in einer Wiese ab und verschwindet, um in einigem Abstand zu äsen? Das ist kein Verrat, es geschieht vielmehr, um das Kitz zu schützen, das bis sechs Wochen nach der Geburt geruchlos ist. Kein Fuchs kann es wittern, es ist, weil es nach nichts riecht oder nur nach Wiese, vor den Fressfeinden geborgen. Bliebe das Reh aber bei seinem Kitz, wäre dieser Zaubertrick der Natur zunichtegemacht. Im Mittelpunkt der jägerischen Hege und Pflege steht im Mai darum das Jungwild. An ihr muss sich auch der Landwirt beteiligen. Ohne ihn geht es nicht, außerdem ist die Verhinderung von Tierleid gesetzlich vorgeschrieben. Die Anlage von Beetle Banks rettet Kitze, sichert das Überleben von Singvögeln. Aber der Bauer muss noch viel mehr tun.

          Wenn der Landwirt den Mähtermin rechtzeitig ankündigt, können zwei Tage vor der Mahd Eisenkreuze, wie sie Betonfundamente stabilisieren, mit übergestreiften blauen Plastikmüllsäcken in der Wiese aufgestellt werden. Diese Scheuchen finden Ricken so befremdlich, dass sie in ihrer Nähe kein Kitz ablegen würden. Eine weitere Vergrämungsmaßnahme arbeitet akustisch. Auf dem Gehäuse des Mähwerks kann ein Beschaller angebracht werden. Der Lärm lässt ältere Jungtiere aufschrecken und flüchten.

          Immer mit dem Jagdpächter abgestimmt

          Das Problem bei rationalisierter Landwirtschaft ist, dass alle gleichzeitig mähen wollen, wenn es trocken ist. Je kürzer der Weg über die Wiese, je größer die Maschine, desto mehr Hektar kann man in kurzer Zeit erledigen. Leerwege, also das Fahren ohne Mähen, sind möglichst kurz zu halten. Zur Rettung des Jungwilds muss der Bauer umdenken und nicht hin und her mähen, sondern von innen nach außen in immer größeren Runden. In der Wiesenmitte beginnend, fährt er zunächst über noch zu mähendes Gras. Das macht aber nichts, weil die heutigen Mäher die Halme ansaugen und auch platt gedrückte Pflanzen erwischen. Das Wild kann, sowie es laut wird, aus der Mitte nach allen Seiten flüchten. In Nordrhein-Westfalen ist diese Mähweise gesetzlich vorgeschrieben.

          Unter tragbaren Wildrettern versteht man fünf Meter lange Stangen, an denen Wärmesensoren angebracht sind. Man legt sich diese Stange quer über den Rücken und schreitet langsam die Wiese ab. Ein anderer trägt die Kartons. Ein gefundenes Kitz wird mit Handschuhen angehoben, in den Karton gelegt, am Wiesenrand abgestellt und nach der Mahd wieder zurückgebracht. So findet es die Mutter wieder, und kein Menschengeruch haftet ihm an. Die eleganteste, aber sehr kostspielige Kitzrettungsmethode setzt Drohnen mit Wärmebildkamera ein. Zwischen fünftausend und zwanzigtausend Euro kostet so ein Oktokopter.

          Es gibt viele Initiativen, bei denen man sich melden kann, um mitzusuchen. Die Kitzsuche muss immer mit dem Jagdpächter abgestimmt sein und darf nicht auf eigene Faust durchgeführt werden. Die Jagdverbände geben gerne Auskunft. Unter kitzrettung-hilfe.de kann man sich als Helfer registrieren lassen und wird per E-Mail zu geplanten Einsätzen eingeladen. Jungwildrettung ist ein schönes Beispiel, wie Bauern, Jäger und alle, die die Natur lieben, zusammenarbeiten können, um Tierleid zu verhindern. Ein paar Wochen später sind die Kitze alt genug, um selbständig flüchten zu können.

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