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Neue Enzyklika : Alle Brüder

Lässt sich mit vatikanischer Brille die Menschheit einen? Bild: dpa

In seiner neuen Enzyklika tritt der Papst als Anwalt des globalen Wir-Gefühls auf. So verbindet sich Seelsorge mit einem politischen Traum der Weltverbesserung.

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          Und wieder eine Befürchtung weniger: Die neue Enzyklika, das Rundschreiben des Papstes, das am 4. Oktober veröffentlicht werden soll, richtet sich nicht nur an Männer, wie der päpstliche Mediendirektor Andrea Tornielli klarstellt, sondern enthält eine „inklusive und universale Botschaft“. Entsprechende Fragen hatte der Titel des Schreibens „Fratelli tutti“ (alle Brüder) aufgeworfen, der einem geistlichen Zitat des Franz von Assisi entstammt. Nun weiß man Bescheid: Adressiert sind „alle Menschen guten Willens“ (Tornielli), der Untertitel lässt sich mit ein bisschen gutem Willen mit „Über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ übersetzen. Im Bereich der Gendersensibilität für einen Pseudoaufreger gesorgt zu haben ist als Publikationsstrategie nicht verkehrt, wenn es darum geht, einem Bestseller den Weg zu bahnen.

          Was auch schon durchsickerte: Der Text geht nicht so fromm franziskanisch weiter, wie er mit seinem missverständlichen Genderknaller beginnt. Dem Vernehmen nach handelt es sich um ein Grundsatzdokument für eine globale Neuorientierung nach der Corona-Pandemie. Es geht darin um Multilaterismus, internationale Solidarität und eine ökologische Wende, um wichtige säkulare Anliegen also, denen es nur nutzen kann, wenn neben den Vereinten Nationen und diversen Nichtregierungsorganisationen nun auch der Petrus-Nachfolger bekennt: Wir ziehen alle an einem Strang, sitzen alle im selben Boot. Als Anwalt des globalen Wir-Gefühls setzt der Papst ein Zeichen der Systemrelevanz im Geiste von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, statt zwischen Himmel und Hölle auf dem Heil der Seelen herumzureiten.

          Ein inklusives Erwachen

          Er bringt sich damit in die Position eines Strategen für eine bessere Welt, in welcher sich auch Sigmund Freud schon sah, als er über den Anschluss der psychoanalytischen Bewegung an die „Internationale Brüderschaft für Ethik und Kultur“ nachdachte. Seelsorge mit Weltverbesserung, mit einem politischen und humanitären Traum zu verbinden, dieser Antrieb eint so verschiedene Geister wie den frühen Freud und den späten Franziskus. Der Traum von einer neuen Kirche, die den metaphysischen Muff unter den Talaren von zweitausend Jahren auslüftet, könnte mit „Fratelli tutti“ als Traumprotokoll nun endlich so geträumt werden, dass es ein weltanschaulich inklusives Erwachen gibt. Alle Menschen, die sich nicht schlechten Willen vorhalten lassen möchten, müssten so doch ihr „Ja“ zur Kirche sprechen können.

          Wäre das nicht auch die Chance für eine Kirche deutscher Obedienz, deren jahrzehntelange Reformspiele in „theologischen Unbedarftheiten“ (Kardinal Woelki) zu verläppern drohen? Wo es maßgeblich um die großen Fragen der globalen Orthopraxie geht, kann der kleinliche Streit um Orthodoxie auf sich beruhen bleiben, vom Zölibat bis zum Frauenpriestertum. Mit „Fratelli tutti“, so ungelenk der Titel wirkt, könnte der ersehnte Befreiungsschlag erfolgen – die Neuerfindung des Katholizismus als Komitee zur Rettung der Erde.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

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