Kopftuchurteil : Gefährlicher Stoff
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Necla Kelek sieht im Urteil des Bundesverfassungsgerichts einen Rückschlag für die Selbstbestimmung muslimischer Frauen. Bild: Imago
Was hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil, das Lehrerinnen zubilligt, Kopftuch zu tragen, getan? Es wirft den Kampf muslimischer Frauen um Selbstbestimmung auf fatale Weise zurück. Ein Gastbeitrag.
Es ist paradox. Viele Kommentatoren meinen, das Kopftuch sei zwar ein „religiöses Zeichen“, aber „kein gefährlicher Stoff“. Es sei ganz im Gegenteil ein Zeichen dafür, wie tolerant und stark unsere Gesellschaft ist, was sie alles aushält. „Ein guter Tag für die Religionsfreiheit“, jubelte der Grünen-Politiker Volker Beck. Zudem werde der Weg frei, sagen die Befürworter, dass muslimische Frauen in Schulen nicht nur als Putzfrauen, sondern auch als Lehrerinnen arbeiten könnten. Das Kopftuch als Zeichen der Emanzipation. Wenn es nicht so absurd wäre, könnten wir darüber lachen.
Ich bin in der Türkei geboren, und eine der großen Errungenschaften der Türkei Atatürks war es, das Kopftuch aus Behörden, Schulen und Universitäten zu verbannen. Es war im zwanzigsten Jahrhundert ein Zeichen der modernen türkischen Frau, dass sie ihre Haare offen trug und rauchte. Bis zur Regierungsübernahme durch Erdogans AKP war etwa die Hälfte der türkischen Frauen erwerbstätig, das Kopftuch wurde vorwiegend auf dem Lande getragen. Inzwischen tragen fast zwei Drittel der türkischen Frauen den Schleier, ihre Erwerbsquote ist auf 22 Prozent gesunken. Auch Lehrerinnen dürfen heute in der Türkei das Kopftuch tragen. Ein Schelm, wer den Zusammenhang nicht sieht.
„Kleide dich anständig wie deine Lehrerin“
Ich bin seit Jahren ehrenamtlich in Mädchenprojekten in Berlin-Neukölln tätig. Die Vereine organisieren Nachhilfe und Nachbarschaftstreffen. Der Druck auf die jungen Frauen durch ihre Familien und die muslimische Community, sich entsprechend den islamischen Sitten zu verhalten und zu kleiden, hat stark zugenommen. Die Mädchen möchten eine Ausbildung, sie wollen selbständig werden und über ihr Leben bestimmen, aber es wird ihnen verwehrt. Sie werden keine Lehrerinnen, weil sie meist gar nicht die Schule beenden können, sondern vorher verheiratet werden. Sie werden Putzfrauen, weil sie nichts lernen durften und ihre Männer Wohnung, Auto und Familienhochzeiten nicht allein finanzieren können. Wer behauptet, das Kopftuchurteil ebnete Frauen den Weg in den Schuldienst, ist zynisch.
Wenn jetzt noch der Druck auf die Mädchen durch Lehrerinnen, die offensiv das islamische Frauenbild demonstrieren, zunimmt, wird ein weiterer Weg in die Selbständigkeit verwehrt. Die Eltern werden sagen: „Kleide dich anständig wie deine Lehrerin.“ Gestärkt wird das kollektive muslimische Selbstverständnis, das sich in der Koran-Sure 3, Vers 110 ausdrückt: „Ihr (Gläubigen) gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist.“
„Ein von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch kann allerdings deshalb besonders intensiv wirken, weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert sind.“ Das schrieb 2003 das Bundesverfassungsgericht zu seinem damaligen Kopftuchurteil. Eine Lehrerin mit Kopftuch ist ein stummes, aber beredtes Zeichen, dass die islamischen Normen Geltung haben. Wieso das Gericht seine Meinung geändert hat, ist nicht nachzuvollziehen.
Bundesverfassungsgericht : Kopftuchverbot verstößt gegen Grundgesetz
Keine Einmischung in diese Auseinandersetzung
Das aktuelle Urteil fällt der Integration und der Emanzipation junger muslimischer Frauen in den Rücken. Die Klägerinnen, wie schon 2003 das ehemalige Vorstandsmitglied der „Muslimischen Jugend in Deutschland“, Fereshta Ludin, finden sich samt Unterstützern im Umfeld oder direkt in den politischen Islam-Verbänden wie „Milli Görüs“. Diese Verbände verfolgen eine Strategie: Sie versuchen, über Musterprozesse ihre Vorstellung vom religiösen Leben als Norm durchzusetzen. Ein Urteil hat für diese Verbände so viel Nutzen wie ein Gesetz. Sie werden wie beim Schwimmunterricht mit Klagedrohungen das Kopftuch an Schulen durchsetzen. Vor allem an Schulen, auf die mehrheitlich muslimische Schüler und Schülerinnen gehen, werden in absehbarer Zeit Kopftücher das Bild bestimmen.
Zu kritisieren ist auch, dass sich das Bundesverfassungsgericht in eine innerislamische Debatte einmischt. Drei Viertel der muslimischen Frauen in Deutschland tragen kein Kopftuch. Zwischen den Vertretern des konservativen Islams der Verbände und den unorganisierten säkularen Muslimen besteht Uneinigkeit darüber, ob das Kopftuch tatsächlich der Prophetentradition zuzurechnen oder nur ein Relikt des immer noch herrschenden Patriarchats ist. Das Gericht darf sich in diese Auseinandersetzung nicht einmischen; es sollte den säkularen Staat stärken und die Schwachen, in diesem Fall die Grundrechte von Frauen und Mädchen, schützen.