Flüchtling als Identität : „Wir brauchen eine Debatte über uns selbst“
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Aber sie ist ungleich verteilt. Von den 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben 15,5 Millionen in den alten Bundesländern. Im Osten ist die Vielfalt keine Realität. Offenbar hat das jedoch vor allem negative Effekte auf die ältere Generation. Wir haben im Februar eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass Erwachsene - also die über 26-Jährigen - in Ostdeutschland deutlich abwehrender gegenüber Muslimen sind. Ostdeutsche Jugendliche sind hingegen fast genauso offen gegenüber Muslimen wie westdeutsche Jugendliche.
Wie erklären Sie sich das?
Die ostdeutschen Jugendlichen sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, die sich seit 2001 als Einwanderungsland beschreibt, denn das tut Deutschland ja. Selbst wenn das ihre reale Lebenswelt nicht konkret betrifft, so sind sie doch davon geprägt, von Bildern und Wissen darüber, das in Schulen und Medien transportiert wird. Der direkte Kontakt ist also keine zwingende Voraussetzung für eine offene Haltung oder um ein Bewusstsein für Ressentiments und Diskriminierung zu entwickeln. Es ist bekannt, dass junge Leute, die durch Organisationen wie zum Beispiel Aktion Sühnezeichen sozialisiert worden sind, unheimlich sensibilisiert sind für Antisemitismus. Und das, obwohl viele von ihnen niemals einem jüdischen Menschen begegnet sind oder Israel besucht haben. Wenn wir eine Sensibilisierung in Bezug auf Antisemitismus geschafft haben, dann muss es auch für die Ressentiments gegenüber Migranten, Muslimen, Schwarzen, Asiaten und anderen möglich sein. Es muss der Gesellschaft beigebracht werden, vorurteilsbewusst zu agieren. Es muss zu ihrem Leitbild gehören. Das gilt übrigens auch für Ressentiments gegenüber Ostdeutschen. Auch das ist etwas, was wir nicht aufarbeiten. In Form von Ressentimentweitergabe schlägt es auf die Gesellschaft zurück.
Der Rat für Migration, dem Sie angehören, hat schon vor fast einem Jahr die Forderung nach einem Leitbild formuliert. Warum braucht Deutschland ein Leitbild?
Wir brauchen ein Narrativ, das die Gesellschaft in die Zukunft trägt. Eines, das Ziele formuliert und Handlungsmodalitäten schafft, die auf die neuen Realitäten reagieren. Andere Länder haben solche Leitbilder schon. Kanada etwa beschreibt sich als Einwanderungsland mit dem Leitspruch „Unity in Diversity“, also „Einheit in Vielfalt“. Das ist für Kanadier nicht nur ein Werbeslogan. In Unternehmen und Schulen gibt es selbstverpflichtende Quotenregelungen, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden. Die Menschen sind stolz auf die Vielfalt, sie ist der Kern der kanadischen Identität. Deutschland argumentiert hingegen vor allem mit Demographie, wenn es um Einwanderung geht: Die Rente soll auch noch in 25 Jahren sicher sein. Langfristig wird das als Narrativ nicht tragen. Es braucht eine ethische und affektive Komponente.
Den Ankommenden zu signalisieren, dass sie nur willkommen sind, weil es hier nicht genug Kinder gibt, ist ohnehin nicht besonders einladend.
Es ist banal, denn das, was gerade passiert, birgt sehr viel mehr Chancen in sich. Es katapultiert Deutschland in eine andere Zeit, in der man ganz viel richtig machen könnte. Man muss nur auf die Signale vertrauen, die aus der Gesellschaft gesendet werden: ob Domprobst, konservative Vorstadtfamilie oder Antifa-Fluchthelfer, ob Migrant oder Münchner Urfamilie - sehr viele Menschen in Deutschland helfen und zeigen damit, dass sie bereit sind für einen narrativen und realen Wandel ihrer Lebenswelt. Doch es scheint, als würde die laute Minderheit mit ihrer Angstmacherei und Abwehrhaltung mehr politisches Gehör finden. Ich hoffe sehr auf das Lauterwerden von Gegenallianzen.