Muslimisch-jüdische Kolumne : Jede Krise schafft neue Willkommenskulturen
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Meron Mendel und Saba-Nur Cheema Bild: David Bachar
Leid lässt sich nicht gegen anderes Leid ausspielen: Müssen wir ein schlechtes Gewissen haben, weil wir mit den Ukrainern mitfühlen und dabei Millionen Opfer anderer Konflikte ignorieren?
Derzeit denken wir viel über Krieg nach. In unseren Gesprächen stellen wir fest, dass wir uns von unterschiedlichen Schlagzeilen angesprochen fühlen. Das äußert sich ungefähr so: „Schau mal, Deutschland hilft der Ukraine mit Strelas!“ „Was bitte sind Strelas?“ „Das sind uralte Luftabwehrraketen, die ich aus dem Militärdienst kenne. Diese sowjetischen Raketen waren schon zu meiner Militärzeit veraltet. Kampfjets erwischt man damit nicht, aber gegen Hubschrauber sind sie ziemlich effektiv.“ „Hast du etwa einen Hubschrauber abgeschossen?“ „Nein, aber in einer Übung habe ich mit der Strela einen Baum getroffen.“ Wir sind beide gleichermaßen entsetzt über den Krieg, jedoch sind die Perspektiven andere. Das hängt mit der jeweiligen Sozialisation zusammen.
„Mein Kibbuz war von allen Seiten von einer militärischen Trainingszone umgeben. Bei unseren Spaziergängen auf den kargen Hügeln sammelten wir alte Munition, die wir als Deko oder Blumentöpfe umnutzten. Auch die Gasmasken, die wir während des Golfkriegs als Schutz gegen die Skat-Raketen aus dem Irak bekamen, haben wir zu Atemschutz beim Lackieren von Bettgestellen oder für Kostüme an Purim umfunktioniert.“
Als der Krieg seine Abstraktion verlor
„Als ich elf Jahre alt war, brach der Kosovokrieg aus. Es war der erste Krieg, an den ich mich erinnern kann. Obwohl er in Europa war, blieb Krieg für mich etwas, das nur weit entfernt passiert. Erst als einige Zeit später zwei neue Mädchen aus dem Kosovo in meine Schulklasse kamen und davon erzählten, was ihnen und ihren Familien widerfahren war, verlor der Krieg seine Abstraktion. Denke ich an ihre Erzählungen, bin ich auch heute noch immer mitgenommen.“
Die Bilder und Nachrichten der letzten Wochen aus der Ukraine werden allmählich zur traurigen Alltäglichkeit – umso schwerer fällt es, uns daran zu gewöhnen. Zerbombte Wohnhäuser, Angriffe auf Kliniken und Familien auf der Flucht. Auch wir haben uns gefragt, was wir tun können. Petitionen unterschreiben? Klar. Auf den Straßen demonstrieren? Selbstverständlich. Aber ist das nicht zu wenig? Spenden ist sicherlich sinnvoll. Aber soll man nicht noch mehr tun? An die polnisch-ukrainische Grenze fahren, um Menschen in Sicherheit zu bringen? Oder eine Familie in unserer Wohnung aufnehmen? Das ist doch eine gute Idee! Zwar ist unsere Wohnung überschaubar, aber nach dem längst überfälligen Ausmisten wäre genug Platz geschaffen. In der Bürgerhotline wurden wir auf Websites verwiesen, um unseren Wohnraum anzubieten.
„Ich denke aktuell viel an die Erzählungen meiner Eltern, die in ihren ersten Jahren in Deutschland in den Achtzigerjahren immer wieder Flüchtlingen in ihrer Dreizimmerwohnung in Frankfurt Unterschlupf geboten hatten. Nahezu jeden Monat waren es Bekannte von Bekannten, die einen irren Fluchtweg aus Pakistan hinter sich hatten. Bis heute erinnert sich meine Mutter daran, wie schwer es für sie war, sich mit drei Kleinkindern um so viele, meist unbekannte Männer zu kümmern, während mein Vater arbeitete. Vor allem in einer Wohnung mit Frankfurter Bad, in der sich die Dusche in der Küche befindet, war Privatsphäre ein Fremdwort.“
„Anfang der Neunzigerjahre teilte ich ein Zimmer im Kibbuz mit Lev, einem Neuankömmling aus der Ukraine. Damals kamen auf einmal Hunderttausende nach Israel und auch mehrere Dutzend Familien in unseren Kibbuz. Von Leningrad und Odessa in die Negevwüste: Nicht nur das Klima war für sie eine Herausforderung, sondern auch die Begegnung mit unserer levantinischen Mentalität. Wir waren laut, ungeduldig und erbärmliche Schachspieler. Auf unserer Seite kühlte die anfängliche Begeisterung über die Begegnung mit den jüdischen Brüdern und Schwestern schnell ab. Wir lachten über ihre Kleidung, Essgewohnheiten und den Akzent der „Russen“, wie wir sie alle nannten, egal ob sie aus Moldau, Kirgistan oder Georgien stammten. Mit Lev habe ich den Kontakt verloren, nachdem die Familie den Kibbuz verlassen hatte. Dass ich Schach spielen kann, dafür bin ich ihm noch heute dankbar.“
Große Bereitschaft zu helfen
Jede Krise bringt neue „Willkommenskulturen“ hervor. Mal zieht die Mehrheit mit, mal wird eher gestänkert, manchmal dominiert offener Menschenhass, und manchmal kippt die Stimmung über Nacht, so wie mit den vielen Empfangskomitees, die mit Stofftieren und Wasserflaschen an Bahnhöfen im Herbst 2015 die Flüchtlinge mit Applaus begrüßten. Die Begeisterung endete nach der Kölner Silvesternacht, in der es zu sexuellen Übergriffen kam. Worin unterscheidet sich die aktuelle Willkommenskultur von der vorigen? Auch heute ist die Bereitschaft groß, den flüchtenden Ukrainern zu helfen. Viel größer als 2015, kritisieren einige. Die Rede ist von Flüchtlingen erster und zweiter Klasse.
Die Berichterstattung legt das nahe. In der BBC war die Rede davon, dass es „europäische Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren“ seien, die getötet werden, weshalb alles viel emotionaler für „uns“ christliche Europäer sei. Ein amerikanischer Journalist berichtete aus Kiew, dass die Ukraine nicht mit dem Irak oder Afghanistan zu vergleichen sei, weil es sich um ein „europäisches“ und „zivilisiertes“ Land handele. Auch hierzulande wurde bei Frank Plasbergs „Hart aber fair“ über die „Feigheit“ der Männer geraunt, die 2015 nach Deutschland kamen und nicht „männlich“ genug gewesen wären, um ihre Heimat zu verteidigen. Im „Spiegel“ lasen wir, dass sich 2015 glücklicherweise nicht „wiederholen“ werde, da die Ukraine und Deutschland zwei Länder seien, die „zum christlich geprägten Kulturkreis gehören und nicht zu einem muslimisch geprägten“. Heißt das, jüdische und muslimische Ukrainer seien schwerer zu integrieren?
Es ist daher vielleicht nachvollziehbar, dass selbst bei antirassistischen Aktivisten – die sonst schnell „refugees welcome“ rufen – ein gewisser Vorbehalt herrscht. Sie beklagen Doppelstandards, da hellhäutige und christliche Ukrainer willkommener seien als Flüchtlinge aus Syrien, Somalia und Afghanistan. Nachdem sich aktuell die Berichte über Diskriminierung von Schwarzen und Indern auf der Flucht häufen, denen an Bahnhöfen und an der polnischen Grenze die Ausreise verwehrt oder verzögert wird, zeigen sich auch Politiker besorgt. Der Integrationsbeauftragte der SPD, Karamba Diaby, beklagte sich: „Diese Ungleichbehandlung ist unerträglich.“
Kabinettsdiskussionen in Israel
Tendiert unsere Gesellschaft dazu, sich mit weißen Opfern stärker zu identifizieren? Darüber wird nicht nur hierzulande gestritten: In Israel wird das sogar im Kabinett diskutiert. Auf die Forderung des Diaspora-Ministers Nachman Shai, mehr ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, reagierte die schwarze Integrationsministerin Pnina Tamano-Schata scharf: „Für Flüchtlinge aus Äthiopien hast du dich nie eingesetzt. Das ist die Heuchelei des weißen Mannes!“
Kritik gibt es auch an der Aufmerksamkeitsökonomie: Erhält der Krieg in der Ukraine in der westlichen Welt doch so viel mehr Aufmerksamkeit als andere, ähnlich blutige Krisen im globalen Süden. In den sozialen Medien begegnete uns diese Kritik in Form eines Memes. Die westliche Welt wird wie eine Mutter illustriert, die fröhlich mit ihrem ukrainischen Kind im Wasser spielt, während die anderen Kinder – Palästina, Syrien, Libyen und der Irak – ertrinken. Ist es wirklich so, dass es die Solidarität mit den Ukrainern nur auf Kosten anderer Verfolgter gibt?
Dahinter steckt eine grundsätzlichere Frage, die unsere menschliche Natur betrifft: Gilt die Nächstenliebe tatsächlich nur für den unmittelbar Nächsten oder auch für den, der weiter entfernt ist? Über diese Frage wurde schon im achtzehnten Jahrhundert gestritten. Das Erdbeben in Lissabon 1755 erschütterte den Optimismus der jungen Aufklärung, führte etwa Rousseau zu der Frage, inwieweit die Distanz zum Leid der anderen das Ausmaß des Mitleids und somit der Hilfsbereitschaft beeinflusst. Über das Erdbeben schrieb damals Voltaire: „Lissabon liegt in Trümmern, und in Paris wird getanzt.“ Was hat sich geändert? Heute erreichen uns Nachrichten von Kriegen und Katastrophen schneller, aber genauso schnell sind wir im Verdrängen. Kiew und Myropil liegen in Trümmern, und hier wird Fasching gefeiert.
Distanz und Leid
Im Jahr 2004, nach dem Tsunami in Südostasien, erklärte der Soziologe Ulrich Beck die Diskussion über die Distanz zum Leid der anderen für beendet. Die breite Hilfsbereitschaft der Europäer deutete er damals als Beleg für das Ende der Distanz. In Zeiten globaler Mobilität, so seine Argumentation, verliere die räumliche Entfernung ihre Starrheit, und die geographische Distanz entscheide nicht mehr über den Grad des Mitgefühls: Steile These, denn die Aufmerksamkeit für die Weltgeschehnisse seither liefert dafür nicht unbedingt gute Belege. Nehmen wir die Bürgerkriege in Jemen oder Südsudan, die fast 700.000 Menschenleben gekostet haben. Wo blieb der öffentliche Skandal? Nennenswerte Hilfe aus dem Westen ließ auf sich warten.
Müssen wir ein schlechtes Gewissen haben, dass wir seit Wochen mit den Ukrainern mitfühlen und dabei sicherlich Millionen Opfer in anderen Konfliktregionen auf der Welt ignorieren? Wir finden es schwierig, wenn Leid gegen anderes Leid ausgespielt wird. Die Frauen und Kinder aus der Ukraine können nichts dafür, dass auch im Jemen noch gekämpft wird oder nicht alle Ortskräfte aus Afghanistan nach Deutschland einreisen konnten.
Wir haben unser Gästezimmer online für Geflüchtete angeboten. Bisher hat das Telefon noch nicht geklingelt. Wir warten auf unsere Gäste. Sie sind willkommen, egal welche Hautfarbe oder welchen Pass sie haben.