Muslimisch-jüdische Kolumne : Der Koran kennt viele Geschlechter
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Meron Mendel und Saba-Nur Cheema Bild: David Bachar
Debatten über Transgender finden überall statt. Im Judentum und im Islam sind sie durch Widersprüche gekennzeichnet.
Zum Auftakt des Pride Month im Juni hatte „Die Welt“ einen umstrittenen Beitrag von fünf Gastautoren veröffentlicht, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Indoktrination und Sexualisierung von Kindern vorwerfen. Demnach würden „Transaktivisten“ die Macht über Medien und Politik übernehmen. Wir sind sicherlich keine Experten für Genderfragen, aber die Feindseligkeit hat uns nicht kaltgelassen. Es gab noch mehr davon: In einem fünfzigseitigen Dossier wollten die Autoren belegen, dass die Berichterstattung in die Hände von „Queer-/Lobbygruppen“ geraten sei. Der Geheimplan bestehe darin, den Boden für die angekündigte Reform des Transsexuellengesetzes zu bereiten.
Den dazugehörigen Aufruf „Schluss mit der Falschberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks!“ unterzeichneten rund 120 Wissenschaftler. Sogar Springer ging das zu weit: Drei Tage später distanzierte sich der Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner von dem Gastbeitrag, den er als „unterirdisch“ und „bestenfalls grob einseitig“ bezeichnete. Als Protest auf das „Einknicken“ vor „der Tyrannei der woken Aktivisten“ kündigte wiederum die „Bild“-Journalistin Judith Sevinç Basad.
Das war freilich nicht die erste Diskussion über Transmenschen, die die Gemüter bewegt. Auch die Autorin J. K. Rowling wurde wegen ihrer Äußerungen angefeindet. Im Sommer 2020 hatte sie auf Twitter einen Artikel verlinkt, in dem es um „menstruierende Menschen“ ging, mit dem abfälligen Kommentar: „Ich bin sicher, dass es früher ein Wort für diese Menschen gab. Kann jemand helfen?“ Damit machte sie sich über inklusive Formulierungen lächerlich, der Shitstorm zeigte aber auch, mit welcher Aggressivität die Gegenseite reagiert: In den sozialen Medien kursierten Morddrohungen, Aktivisten verbrannten Harry-Potter-Bücher. In Blogs wurde diskutiert, ob Transmenschen noch Harry-Potter-Bücher kaufen sollten.
Wie so häufig ist es eine laute Minderheit, die auch bei berechtigten Anliegen den falschen Weg einschlägt. Identitätspolitische Themen werden bisweilen verbissen debattiert. Doch beobachten wir, dass um dieses Thema besonders erbittert gestritten wird. Als mit Nyke Slawik und Tessa Ganserer (beide Bündnis 90/Grüne) erstmals zwei Transpersonen in den Bundestag eingezogen, war das für viele eine Provokation. Die stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch sagte in einer Rede: „Wenn Ganserer Rock, Lippenstift, Hackenschuhe trägt, dann ist das völlig in Ordnung. Es ist aber seine Privatsache. Biologisch und juristisch ist und bleibt er ein Mann.“ Auch das feministische Magazin „Emma“ beklagte, dass mit Ganserer ein Mensch, „der physisch und rechtlich ein Mann“ sei, einen Frauenquotenplatz besetze.
Vor einiger Zeit begegnete uns das Thema beim Sommerfest unseres Sportvereins. Es wurde heiß diskutiert, wie man mit dem Mädchen umgehen solle, das als Junge geboren wurde und nun mit den körperlichen Fähigkeiten eines Jungen gegen Mädchen antritt. Einige Eltern hatten Sorge, dass ihre Töchter es wegen der unfairen Konkurrenz nicht mehr auf das Siegerpodest schaffen würden. Monate später hat sich die Aufregung gelegt, nachdem sich herausstellte, dass sich die Leistungen des Transmädchens eher im Mittelfeld bewegen. Auch im professionellen Sport wird das Thema debattiert. Im März verbat der Weltradsportverband UCI der Britin Emily Bridges die Teilnahme an nationalen Meisterschaften, weil sie einmal ein Mann war. Ihre Teilnahme könnte die Fairness des Wettkampfes gefährden.
Wie wird eigentlich diese Debatte in unseren Herkunftsländern geführt? Interessanterweise können Israel als auch Pakistan in der Sache punkten – wenn auch sehr unterschiedlich. 1998 schrieb die israelische Sängerin Dana International Geschichte: Sie war die erste (und bis heute letzte) Transfrau, die den Eurovision Song Contest gewann. Zu Hause war der Stolz auf die Siegerin überwältigend. Sie wurde in die Knesset eingeladen und wurde von den Parlamentariern gefeiert. Nur eine Handvoll ultraorthodoxe Knesset-Abgeordnete wichen der Begegnung mit der Sängerin aus. Nicht überraschend, dass sie den Untergang der jüdischen Kultur beklagten. Auch die israelische Armee gilt als Vorbild für die Akzeptanz von Transmenschen. Schon vor etwa einem Jahrzehnt absolvierte der Transmann Ofer Erez eine Offizierslaufbahn. Inzwischen stehen Transmenschen (fast) alle Türen offen, vom Aufklärungsdienst bis zum Piloten. Auch wenn aktuell die religiösen Kräfte in der israelischen Gesellschaft gegen Gleichberechtigung von Transmenschen sind, ist das Judentum an sich nicht grundsätzlich transfeindlich. Vielmehr ist der Umgang mit Transgender im Judentum wie im Islam in Theorie und Praxis durch Widersprüche gekennzeichnet.
Sprachliche „Dos and Don’ts“
In den jüdischen religiösen Quellen wird Transsexualität nicht explizit thematisiert. Im Talmud wird zumindest das dritte Geschlecht anerkannt, wohl durch griechische Einflüsse. In einer anderen einflussreichen rabbinischen Quelle, der „Schulchan Aruch“ aus dem sechzehnten Jahrhundert, wird die Frage diskutiert – und am Ende bejaht, ob sich Männer als Frauen verkleiden dürfen. Anlass dafür gab Purim, das jüdische Verkleidungsfest. Auch der Islam, das mag einige überraschen, ist nicht grundsätzlich transfeindlich. Insbesondere unter progressiven Islamtheologen gibt es den Konsens, wonach auch im Koran andere Geschlechter – etwas „zwischen“ Mann und Frau, ohne weitere Ausführungen – erwähnt werden. Diverse Hadith, Aussprüche des Propheten Mohammed, würden die Anerkennung von Transmenschen belegen. Doch bringt das den Betroffenen nicht viel, denn die Praxis in den meisten islamisch geprägten Staaten und Gesellschaften ist transfeindlich.
Es passt nicht zum Bild einer traditionellen muslimischen Gesellschaft, aber in Pakistan genießen Transmenschen rechtliche und in Teilen auch gesellschaftliche Anerkennung. Vor vier Jahren wurde Marvia Malik die erste Transgender-Nachrichtensprecherin im pakistanischen Fernsehen – und ist eine der bekanntesten Aktivistinnen vor Ort. Seit 2009 gibt es dort den offiziellen dritten Geschlechtseintrag für Hijras – so der Begriff für Transmenschen und Transvestiten (mittlerweile ist „Khwajasara“ der politisch korrekte Begriff).
In Pakistan wird das Geschlecht nach dem Identitätsempfinden definiert. Juristisch sind Transmenschen „alle, deren geschlechtliche Identität oder geschlechtliche Selbstdarstellung von den sozialen Normen und den kulturellen Erwartungen abweicht, die mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, verbunden sind.“ Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber man geht von bis zu 500 000 Hijras in Pakistan aus. Was in der pakistanischen Gesellschaft nämlich nicht zur Debatte steht, ist, dass auch Transmenschen Teil der muslimischen Gemeinschaft sind.
Oft gelten Transfrauen als religiös, traditionell wird ihnen eine besondere Spiritualität zugesprochen. Leicht haben sie es trotzdem nicht: Ihre Angehörigen verstoßen sie häufig. Meistens leben sie isoliert von der Gesellschaft, dafür gemeinsam in eigenen Communitys – so wuchs auch die Nachrichtensprecherin Malik auf. Sie sind meist arm, und alltägliche Anfeindungen gehören zur Normalität. Der März 2018 gilt daher als Revolution für Transmenschen in Pakistan: Denn da wurde zu ihrem Schutz ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet, das selbst von konservativen Parteien unterstützt wurde.
Wir haben uns gefragt, worin sich Akzeptanz von Transmenschen in Deutschland im Vergleich zu unseren Herkunftsländern unterscheidet. Uns kommt der Umgang hier verkrampfter vor. Als wir vor einigen Jahren in einem linksautonomen Zentrum für ein Podiumsgespräch eingeladen waren, fiel uns dies auf. Direkt am Eingang war fast in Leinwandgröße ein Plakat zu sehen. Es ging um sprachliche „Dos and Don’ts“ im Umgang mit Transmenschen. Mit einer Tabelle wurde didaktisch gezeigt, welche Ausdrucksformen korrekt sind. So lernten wir, dass das Wort „Geschlechtsumwandlung“ nicht verwendet werden soll. Stattdessen sei „Geschlechtsangleichung“ angesagt. Ebenfalls zu den „Don’ts“ zählt demnach die Formulierung: „Ein Transmann ist eine Frau, die irgendwann merkt, dass sie als Mann leben will“ – richtig ist: „Ein Transmann ist ein Mann, der bei seiner Geburt aufgrund äußerer Merkmale für ein Mädchen gehalten wurde.“ Auf Urdu und Hebräisch konnten wir auch nach intensiver Recherche keine solche Anweisungen finden. Irgendwie klang das sehr deutsch, dachten wir.