Muslimisch-jüdische Kolumne : Ausschlafen will gelernt sein
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Der Sommer naht, doch wo sollen wir ihn verbringen? Bild: dpa
Verwandtenbesuch in Fulda oder Ausspannen auf der Ranch? Vom Versuch, sich an die deutsche Urlaubskultur anzupassen, die uns nicht in die Wiege gelegt wurde.
Krise hin oder her – sobald die Temperaturen steigen, fragen die Ersten: Wohin geht’s in den Ferien? In den Medien geben Tourismusexperten Prognosen über Hotspots und Tipps für den besten Sommerurlaub. Wir navigieren ziellos durch die Tourismusseiten und stolpern über „Trenddestinationen“ und „Best in Travel-Rankings“. Überfordert von der Informationsflut, haben wir immer noch nichts gebucht. Der Stress steigt. Nicht dass wir am Ende unsere freien Sommertage in Fulda verbringen müssen! Doch müssen erst einige grundlegende Entscheidungen getroffen werden: Wandern mit Zelt oder Hotel am Strand? Klimaneutral mit der Bahn oder mit dem Billigflieger in den Süden? Familie im Ausland besuchen oder lieber dorthin, wo uns niemand kennt? Unsere Vorstellungen gehen immer wieder auseinander.
„Urlaub bedeutete für uns, die Verwandtschaft zu besuchen: an allererster Stelle in Gelsenkirchen oder Hamburg. Aber es ging auch mal nach Pakistan und Kanada. Man machte es sich auf Matratzen im Wohnzimmer des Cousins dritten Grades bequem und geht zum x-ten Mal in den unvergesslichen Ruhr Park oder ins Phantasialand. Mit sieben Jahren besuchte ich zum ersten – und einzigen Mal – meine Großeltern in Pakistan. Die Kombination aus Hitze und Kampfmücken prägt meine Erinnerung an den Urlaub. Wegen der Hitze entschied sich meine Mutter, mir die Haare ganz kurz zu schneiden. Als ich mit dem neuen Haarschnitt zurückkam, fragte eine aus meiner Klasse, ob ich ein neuer Schüler bin. Während meiner Schulzeit dachte ich immer wieder darüber nach, wie es wäre, wie die Deutschen an der Nordsee oder in der Toskana Urlaub zu machen.“
Auslandreisen nur für Erwachsene
„Urlaub im Ausland durften im Kibbuz nur Erwachsene – alle sieben Jahre war man an der Reihe. Wenn es so weit war, musste jede Minute durchgeplant sein. Zwei Wochen, sechs Länder, kein Highlight verpassen und alles fotografieren. Denn zur Tradition gehörte, dass die Reisenden nach ihrem Urlaub das Kibbuz zu einer Diashow einladen. Der Grand Canyon, der Eiffelturm und Aufnahmen der Wachablösung vor dem Buckingham Palace: Anhand der Fotos an der Wand versuchten wir Kinder uns die Welt ,da draußen‘ vorzustellen. Keine Reise ging nach Deutschland. Damals galt es noch als Tabu, Urlaub im ,Land der Täter‘ zu verbringen. Kinder durften ins abenteuerliche Ferienlager in der Wüste oder gelegentlich für einen Kurztrip nach Tel-Aviv oder Jerusalem.“
Urlaub haben wir beide anders als hierzulande erlebt, doch bemühen wir uns, uns an die Urlaubskultur der Deutschen anzupassen. Zugegeben, es gibt Grenzen: Tennissocken mit Sandalen werden wir nicht tragen und auch keine Liegen mit Handtüchern reservieren. Was uns inzwischen aber ziemlich gut gelingt: ständig über den Urlaub reden! Wie war der letzte? Wohin geht der nächste? So kann jedes peinlich schweigsame Gespräch gerettet werden.
Nicht, dass die mich rausschmeißen
„Urlaub war kein richtiges Gesprächsthema bei uns zu Hause. Wir planten nicht etwa den jährlichen Familienurlaub. Da nur mein Vater erwerbstätig war, ist es auch immer eine finanzielle Frage gewesen, ob und was mit vier Kindern möglich war. Beim jährlichen Urlaubsantrag orientierte sich mein Vater an muslimischen Feiertagen und Veranstaltungen der Religionsgemeinde, die nur hin und wieder in die Schulferien fielen. Ein paar Urlaubstage ließ er frei – für Notfälle, sagte er immer. Das war beispielsweise der Fall, als meine Großeltern krank wurden und er häufiger nach Pakistan reisen musste. Für meinen Vater, der täglich um drei Uhr morgens zur Arbeit fuhr und sich nie krankmeldete, war Urlaub immer mit schlechtem Gewissen verbunden: ‚Nicht dass die mich rausschmeißen‘, sagte er oft.“
Wegen Urlaub gekündigt werden? Klingt übertrieben. Aber das kann selbst einer Umweltministerin passieren, die ausgerechnet kurz nach der Flutkatastrophe in den Familienurlaub fährt. Als die Kritik an Ursula Heinen-Esser (CDU) und Anne Spiegel (Grüne) laut wurde, mussten beide zurücktreten. Wir haben uns gefragt, ob die öffentliche Empörung übertrieben ist. Heinen-Esser fuhr nach Mallorca, um den Geburtstag ihres Ehemanns zu feiern. Spiegel war fast zeitgleich für einen Familienurlaub in Frankreich. Wie sie später berichtete, hatte ihr Mann zuvor einen Schlaganfall erlitten. Aktuell geht es um den Familienurlaub von Verteidigungsministerin Lambrecht (SPD).
Hier scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ihr wird vorgeworfen, zu einem Truppenbesuch in Schleswig-Holstein ihren Sohn im Regierungshubschrauber mitgenommen zu haben, um anschließend in den Urlaub auf Sylt zu fahren. In Israel würden solche Urlaubsskandale wahrscheinlich nicht zu einem Rücktritt führen. Im Dezember empfahl Ministerpräsident Naftali Bennet den Israelis, an Chanukka wegen der Omikron-Variante das Land nicht zu verlassen. Zwei Tage später flog seine Frau mit den gemeinsamen Kindern in den Auslandsurlaub. Zwar gab es öffentliche Kritik, aber niemand dachte ernsthaft, dass er deshalb zurücktreten würde.
Ein Verdacht von Faulheit
Anders kennt man es aus Amerika: Arbeitnehmer haben viel weniger Urlaubstage als hierzulande, doch die Präsidenten verbringen mehrere Monate in Ressorts oder ihren Anwesen. Donald Trump war ein Drittel seiner Amtszeit im Urlaub, meistens zum Golfen. George W. Bush war sieben Monate im Amt, als er dreißig Tage Urlaub auf seiner texanischen Ranch machte. Als 2005 der Hurrikan Katrina in New Orleans tobte, unterbrach er seine Ferien nicht. Katrina kostete fast zweitausend Menschen das Leben, nicht aber den Job des Präsidenten.
Warum sind, wenn es um Freizeit geht, keine Fehltritte erlaubt? Unsere kollektive Geduld endet offenbar beim Verdacht von Faulheit. Und was ist ein unberechtigter Urlaub, wenn nicht ein Zeichen der Faulheit? Max Weber hat es schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts in seiner Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ erkannt: Arbeit gilt als Dienst für Gott. Nach Webers Logik fühlen sich Protestanten schuldig, wenn sie Freizeit haben. Arbeiten, Produktivsein und Sparen sind demnach die echten deutschen Tugenden. Aber es war der Katholik Helmut Kohl, der warnte: „Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als kollektiven Freizeitpark organisieren.“
Protestantisch ging es auch bei uns im Kibbuz zu. Produktiv sein galt als wichtigste Tugend, die schlimmste war, wenn jemand als Parasit bezeichnet wurde. In der Hochsaison mussten wir Jugendlichen am Schabbat morgens um sieben startklar sein, um Pfirsiche, Nektarinen und Avocados zu pflücken. Hier in Deutschland musste ich mich erst daran gewöhnen, am Wochenende auch mal zu entspannen – und auszuschlafen! Manchmal wünsche ich mir, in dieser Sache mehr jüdisch zu sein. Am Schabbat ist für Juden eigentlich Ruhe angesagt. Aber man muss das nicht so wörtlich wie die Orthodoxen nehmen, die an diesem Tag weder Auto noch Bahn fahren, nicht telefonieren und nicht einmal den Lichtschalter betätigen.“
Mehr oder weniger Ferientage?
Die Corona-Zeit hat das Verhältnis von Arbeit, Urlaub und Freizeit durcheinandergebracht. Im Lockdown sahen unsere Urlaubs- und Feiertage ziemlich ähnlich aus wie die Arbeitstage: Nicht nur haben wir das Gefühl, während Corona mehr gearbeitet zu haben. So zeigte eine Studie der Harvard-Universität, dass sich in Ländern, in denen es einen Lockdown gab, die Arbeitszeiten um durchschnittlich zehn Prozent erhöhten. Als eine Art „Corona-Bonus“ forderte der Bundestagsabgeordnete Dirk Wiese (SPD) voriges Jahr mehr Urlaubstage im Jahr, mit der Begründung, dass unter anderem Feiertage immer wieder aufs Wochenende fielen, so etwa die vergangenen Weihnachtstage und auch der 1. Mai.
Die verlorenen Feiertage – so die Idee – könnten am folgenden Montag nachgeholt werden. Nach Ansicht des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft sollte das Gegenteil getan werden, das voriges Jahr forderte, Urlaub und Feiertage zu reduzieren, um die Arbeitszeit zu steigern. Argumentiert wurde mit der Leistung europäischer Nachbarn wie der Schweiz oder Schweden, die weniger freie Tage haben.
Mehr oder weniger Urlaub – das scheint für uns das kleinere Problem zu sein. Wir klicken uns weiter durch auf der Suche nach Ideen für unseren Sommerurlaub. Wenn wir uns für keines der Angebote begeistern können, bleiben wir in Frankfurt und renovieren die Küche. Das steht längst auf der Liste. Nennen wir das doch Integrationsurlaub!