Musikalische Früherziehung : Wie viel Ernst im Kinderspiel steckt
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Allein, dass man die Wichtigkeit von Musikerziehung in Kindergärten und Schulen hierzulande immer erst dann zur Kenntnis nimmt, wenn sie mit dem Hinweis auf die vielfältigen nützlichen Nebeneffekte verknüpft wird, erscheint bezeichnend: Musik in Kindergärten soll die Kinder intelligenter, motivierter und sprachfähiger machen. Sie soll das soziale Verhalten verbessern, die motorische Entwicklung begünstigen, Aggressionen mildern und den Gemeinschaftssinn fördern. Eine Musikerziehung um der Musik willen, eine Pädagogik also, deren Ziel das Verständnis des Gegenstands selbst wäre - das erscheint der Tendenz nach als eine geradezu verdächtige Orientierung.
Zweierlei wird ausgespart
Weil die Musik dem pädagogischen Zweck unterworfen wird, geht der Trend in die Richtung des Selberbastelns und vereinten Musikwerkelns. Das Kunstwerk erscheint in dieser Perspektive als überfeinerte Abweichung von einer musikalischen Gemeinschaftsalltäglichkeit, um deren Einübung es eigentlich zu tun sei. Unter dem Vorwand, demokratisch zu sein, orientiert man sich gerne am Mindestniveau einer öden Gebrauchsmusik. Schließlich sei ja nicht jedes Kind ein musikalisches Genie und wolle man auch nicht Heerscharen von Virtuosen heranziehen. In keinem anderen Fach werden Begabungsunterschiede derart tabuisiert, Abweichungen mitunter gar sanktioniert, wie im Musikunterricht. Niemand soll sich hervortun, keiner darf sich vereinzeln. Instrumentalunterricht, gar Einzelunterricht gilt vielerorts als eine elitäre Sonderveranstaltung für Hochbegabte.
Zweierlei wird in dieser pädagogischen Einstellung ausgespart: das Erlernen einer genuin musikalischen Disziplin und die Ausbildung der musikalischen Phantasie, die sich überhaupt erst an den reichen Ausdrucksmöglichkeiten eines eigenlogischen musikalischen Gestalt-Zusammenhanges entzünden könnte. Mit der sturen Einübung einer Tonabfolge, an der es nicht viel zu begreifen gibt, mag man eine Kinderschar eine Weile lang bändigen und auf Gemeinschaftlichkeit einschwören können - musikalische Bildung folgt daraus noch nicht. Das Geistige an einem musikalischen Kunstwerk ist aber kein Arcanum für Spezialisten, sondern nur die Kehrseite der ästhetischen Erfahrung mit ihrer beglückenden Außeralltäglichkeit, Einzigartigkeit und sinnlichen Prägnanz, die bis ins Innerste des Rezipienten reicht. Erst als Zentrum einer ästhetischen Erziehung, die solche Erfahrungen zu gestalten und verstehen lehrt, wirkt Musik im tieferen Sinne persönlichkeitsbildend.
Selbstbewusstsein mit Schönberg
Nur zu genau erinnere ich mich daran, dass ich die nachhaltigen musikalischen Eindrücke, ich möchte beinahe sagen: Erkenntnisse in meiner eigenen Kindheit keineswegs dem Mitwirken in der ortsansässigen Orff-Gruppe verdankte, sondern den Balletten Tschaikowskys, dem Mendelssohnschen „Sommernachtstraum“ oder dem c-Moll-Klavierkonzert von Mozart - Werken also, denen ich in meinen musikalischen Fähigkeiten als Vierjährige beileibe noch nicht gewachsen war. Und ich bin, das ist das Entscheidende, davon überzeugt, dass dies vielen Kindern so geht oder gehen würde, wenn ihnen die entsprechen Möglichkeiten offenstünden. Eine von jedem Elitismusverdacht so freie Autorin wie Elke Heidenreich hat das Glück ihres ersten Opernbesuchs, einer Aufführung der „Zauberflöte“, wie folgt beschrieben: „Natürlich habe ich den tieferen Sinn und auch die Texte der Oper oft nicht verstanden. Aber ich habe sofort gespürt, was Oper bedeutet: Traum, sinnlicher Überfluss, Verschwendung, Tanz mit Tönen. Ich war bis ins Innerste aufgewühlt und hatte ein Gefühl von Glück, Luxus und Freiheit. In meinem grauen, engen Leben war eine Tür ins Offene gefunden.“