Milizen in Russland : Die Unsicherheitsholding
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Neunzig Prozent der heutigen Milizanwärter psychologisch ungeeignet
Die Milizkollegen waren schockiert, als die Praktikantin ihnen verriet, wer sie sei. Als aber ihr Artikel erschien, gestanden sie zu, sie habe die Wahrheit geschrieben, sagt Jelena Kostjutschenko. Die Internetdebatte unter Milizmitarbeitern belebte sich. Einige Beamte beichten, wie sie im Dienst ihre Ideale verloren haben. Andere erzählen, wie auf ihrer Milizstelle das Arbeitsethos abhandenkam. Ehefrauen von Polizisten berichten der Journalistin, wie der Verdacht und dann die Gewissheit, dass der Mann kriminell verdientes Geld nach Hause bringt, die Liebe in Mitleid und Ekel verwandeln kann. Aus dem Innenministerium jedoch meldeten sich nur Anrufer bei Jelena Kostjutschenko und der Redaktion der „Nowaja gaseta“ mit der Forderung, sie sollten die echten Namen der Reportagehelden preisgeben.
Innenminister Nurgalijew, ein Exgeheimdienstler, versucht seine Leute systemschonend zur Räson zu bringen. Nach dem Amoklauf des Denis Jewsjukow wurden der Moskauer Polizeichef Pronin sowie fünf hohe Milizfunktionäre des Südbezirks entlassen. Jewsjukow habe nicht nur auf unschuldige Menschen im Supermarkt, sondern auch allen seinen Kollegen in den Rücken geschossen, sagte Nurgalijew und erinnerte an jene 2655 Polizeibeamten, die seit 2003 im Dienst ums Leben gekommen seien. Der Minister segnete eine Weisung an die Mitarbeiter ab, sie sollten sich gegenüber ihnen ausgelieferten Personen freundlich, höflich und taktvoll verhalten. Außerdem kündigte Nurgalijew jährliche psychologische Tests für Milizbeamte an. Indessen stellten Psychologen, die Jewsjukow im Gefängnis untersuchten, schon fest, er sei normal und voll zurechnungsfähig. Nach der Meinung eines Psychologen des Innenministeriums, mit dem die „New Times“ sprach, dürften freilich neunzig Prozent der heutigen Milizanwärter gar nicht eingestellt werden. Denn der Dienst sei Business für sie.
Die Krankheit schreitet fort
Der Minister will offenbar in der Krise etliche Mittelbeschaffer zu Protestverhinderern umprofilieren. Jedenfalls gab Nurgalijew bekannt, seine Behörde habe ein „Situationszentrum“ gebildet mit Spezialgruppen in den Regionen, um auf soziale Spannungen dort flexibel zu reagieren. Doch die Krankheit schreitet fort: Vor einem Monat fuhren in Sankt Petersburg gleich zwei Milizionäre im Oberstleutnantsrang, die an der Universität des Innenministeriums unterrichteten, im volltrunkenen Zustand nachts jeweils einen Bürger tot. Vor zwei Wochen wurde der Oberkommandierende der Speznas-Eliteeinheit von Nischni Nowgorod, Dmitri Tschudakow, ein hochdekorierter Verbrecherjäger und Tschetschenienveteran, auf der Urlaubsheimreise mitsamt Gattin und zwei Kindern massakriert. Zur gleichen Zeit wurde in Nischni Nowgorod ein Mann festgenommen, der aus seinem Wohnungsfenster auf Passanten schoss.
Zum Mord an Natalja Estemirowa, die dafür lebte, dass Menschenrechte und Gleichheit vor dem Gesetz nicht Papier bleiben, erklärte die russische Staatsanwaltschaft, die Behauptung ihrer Kollegen, die Getötete sei bedroht worden, sei unzutreffend. Etliche Zeugen hätten das widerlegt. Nach dem Mord an ihrer Kollegin von der „Nowaja gaseta“ im Januar fragte Natalja Estemirowa rhetorisch, welche Seite eigentlich der russische Staat unterstütze. Die Antwort ist klar: die Partei der Sieger.