Streit um Hedwig Richter : Eine umgekehrte Dolchstoßlegende
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Tritt Hedwig Richter zu häufig im Fernsehen auf? Bei Anne Will wurde sie am 8. November 2020 als Expertin zur amerikanischen Demokratie befragt. Bild: NDR/Wolfgang Borrs
Mächtige Fachkollegen überziehen die populäre Historikerin Hedwig Richter mit maßloser Kritik. Man nimmt ihr übel, dass sie mit Begeisterung schreibt und dass sie den Nationalsozialismus als illegitimes Kind der Demokratie sieht.
In den deutschen Geschichtswissenschaften sind die beiden wichtigsten Rezensionsorgane Internetportale: H-Soz-Kult, verwaltet an der Humboldt-Universität zu Berlin, und „Sehepunkte“, finanziert vom Freistaat Bayern und betreut an den Universitäten in München und Mainz. Beide Journale haben jüngst einem bei C. H. Beck verlegten Buch scharfe Verrisse gewidmet: „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ von Hedwig Richter. Das ist ungewöhnlich genug – der „grobe Ton“ (Thomas Steinfeld) entschiedener Kritik, der im neunzehnten Jahrhundert so etwas wie ein Markenzeichen der deutschen Wissenschaft war, ist aus dem Rezensionswesen weitgehend verschwunden. Aber die Parallelaktion ist mehr als ungewöhnlich, sie ist außergewöhnlich. Attackiert wird nicht nur das Buch, sondern zugleich die Person der Autorin, geboren 1973, die in Köln mit einer Arbeit über den „Pietismus im Sozialismus“ promoviert wurde, sich in Greifswald mit einem Vergleich der „Modernen Wahlen“ in Preußen und in den Vereinigten Staaten habilitierte und 2019 einem Ruf an die Universität der Bundeswehr in München folgte. Beide Rezensenten stellen die intellektuelle Redlichkeit und die wissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit Hedwig Richters in Abrede.
Die Kritik von Christian Jansen, Professor in Trier, erschien bei H-Soz-Kult in gekürzter Fassung, um einige Spitzen bereinigt. Er machte die Originalfassung bei Academia.edu öffentlich, einem Portal ohne redaktionelle Gatekeeper, wo Akademiker Publikationen zum Download vorhalten. Jansen macht Richter den Vorwurf, in ihrem für ein großes Publikum geschriebenen Buch ein Desiderat künftiger Forschung zu formulieren, die stärkere Berücksichtigung der Frauen in den Revolutionen von 1848, aber die Mitforscherinnen zu verschweigen, die diesen Wunsch schon erfüllt hätten.
„Das ist wohl eine probate Strategie, um bei allen, die den Forschungsstand nicht kennen – und dazu gehören viele Rezensent:innen und Preisjuries – Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dennoch bleibt es ein Verstoß gegen die Pflicht einer Hochschullehrerin, durch die eigene wissenschaftliche Praxis als Vorbild für Studierende zu wirken.“ Die gute wissenschaftliche Praxis ist in der Wissenschaftsethik und im Wissenschaftsrecht ein technischer Begriff. Verstöße gegen Standards guter wissenschaftlicher Praxis werden bestraft. Richter wird hier in die Nähe von Plagiatoren gerückt. Der Vorwurf lautet auf Täuschung – wobei ihr der Erfolg ihrer „Strategie“ leichtgemacht worden sein soll durch nichtprofessionelle oder scheinprofessionelle Leser, die sich angeblich gerne täuschen lassen. Die Schärfe von Jansens Einspruch erklärt sich daraus, dass er mit dem Buch zugleich die Personen und Instanzen außerhalb der Wissenschaft treffen soll, die das Buch gelobt haben.
Am 15. März ist die Rezension von Andreas Wirsching bei „Sehepunkte“ publiziert worden. Sie fällt noch einmal schärfer aus: „Tatsächlich unterschreitet Hedwig Richter systematisch all jene wissenschaftlichen Standards, die ihre Kolleginnen und Kollegen in ihren Proseminaren den Studierenden zu vermitteln suchen.“ Alle Standards und systematisch, nicht etwa einzelne und punktuell. Noch einmal ein ganz eigenes Kaliber ist dieser Verriss wegen der Person des Rezensenten. Wirsching ist der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, einer der mächtigsten Männer der Geschichtswissenschaft. Kraft Amtes ist er auch wie niemand sonst für Hedwig Richters Thema zuständig: Aufgabe des Instituts für Zeitgeschichte ist die wissenschaftlich gegründete historisch-politische Aufklärung im Interesse der Stärkung der Demokratie.
Lauter Lobreden? Viel mehr Verrisse!
Es hat, formal betrachtet, denkbar großes Gewicht, wenn Wirsching Richters Geschichte der Demokratie in Deutschland für ganz und gar misslungen hält, für „ein veritables Ärgernis“. Aber wie stark sind seine Argumente in der Sache? Beginnen wir am Ende. Auch für Wirsching ist das eigentlich Ärgerliche die Resonanz des Buches in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit. Der letzte Satz der Rezension nennt es „ein Alarmzeichen für das Qualitätsbewusstsein von Teilen des Kulturbetriebs“, dass „ein solches Buch von einem der renommiertesten deutschen Verlage herausgebracht und von einem weitgehend unkritischen Feuilleton für erhellend betrachtet wird“. Stimmt das? War das Feuilleton weitgehend unkritisch?
Sechs Rezensionen sind in den überregional wahrgenommenen Printmedien erschienen. Nur zwei waren dezidiert positiv, in dieser Zeitung am 5. September 2020 und, mit Einschränkungen, im „Tagesspiegel“. Die Verrisse im „Spiegel“ und in der „Süddeutschen Zeitung“ erwähnt Wirsching selbst, als vermeintliche Ausnahmen. Aber es waren Ausnahmen nur in der Unsachlichkeit, die ihre Nachahmer in den gelehrten Rezensenten Jansen und Wirsching fand. Elke Schmitter schloss im „Spiegel“ an die Aufzählung der Medien, in denen die Historikerin als Gastautorin präsent ist, und an die Bezifferung ihrer Tweets die Frage an: „Aber hat Hedwig Richter auch etwas zu sagen?“ Überschrift: „Steile Thesen, fromme Phrasen.“ Nach dem Urteil von Franziska Augstein in der SZ ist das Buch „ungenau, völlig unanalytisch, versetzt mit einzelnen interessanten Zitaten und angelesenen Beobachtungen“. So behauptet Wirsching, das Buch bestehe aus „ungefähr 1001 Lesefrüchten, die man alle irgendwo schon einmal gesehen hat“. Aber eine Überblicksdarstellung, die einen Bogen von 250 Jahren aufspannt, beruht naturgemäß auf einer Zusammenschau von gedruckten Quellen und Forschungsliteratur.
Die Besprechung von Stefan Reinecke in der „taz“ ist ein fulminanter Verriss, und auch das Urteil von Mirko Weber in der „Stuttgarter Zeitung“ fiel überwiegend kritisch aus. Dasselbe gilt jenseits des gedruckten Feuilletons für Deutschlandradio Kultur. Ingo Arend, der Rezensent des Radiofeuilletons, charakterisierte Richter als „anschauliche Erzählerin“, die „gern leidenschaftlich“ argumentiere. „Im Eifer des Gefechts verrutschen ihr dabei gelegentlich Metaphern und Begriffe.“ Dem sprachlichen Überschwang entspricht laut Arend gedankliche Unschärfe. Die „Grenze zwischen Analyse und Apologie“ der Volksherrschaft verschwimme, und die Autorin verwickele sich „in Widersprüche“.
Überzeugt hat Richters Buch Arend hingegen mit dem Vorschlag, den Bürger so konkret wie möglich ins Auge zu fassen, als leibliches Individuum, das seine Verletzbarkeit im ganz wörtlichen Sinne dazu motiviert, sich mit seinesgleichen zusammenzuschließen. „Aus der Forderung nach der Unversehrtheit des Körpers entwickelte sich für sie die Idee des demokratischen Subjekts.“ Auch Jansen erkennt an, dass in dieser These „der originelle Kern“ des Buches stecke. Wirsching hingegen moniert, dass Richter auf ihren Leitgedanken „in nicht selten merkwürdigen Formulierungen“ und „eher sinnfreien Sätzen“ zurückkomme. Es fehle „jeder analytische Ansatz“, so dass auf dem Weg in die Gegenwart das Beispiel der Anti-Baby-Pille „für die Vernebelung des Themas herhalten“ müsse. Man liest demnach, in der Formulierung von Franziska Augstein, eine „Autorin, die sich mit ihrer Körper-These wichtig macht“.
Der Schatten des Körpers der Männer
Reinecke hebt sich von solcher Arroganz ab, indem er einen Einwand aus Richters Argument entwickelt: „Weibliche Körperpolitik wird ausgiebig beleuchtet – Männer fehlen weitgehend. Die gedrillten Körper in den tayloristischen Fabriken und den Kasernen bleiben unsichtbar, wohl weil proletarische Männerkörper weder als Stützrad der Fortschrittserzählung noch des feministischen Narrativs brauchbar scheinen. Das ist, angesichts des vollmundig angekündigten Anspruchs, Körper- und Demokratiegeschichte zu verzahnen, eine erstaunliche Lücke.“ Wie man sieht, muss ein strenges Urteil nicht herablassend daherkommen. Dieselbe Fehlanzeige formulierte Weber nicht weniger deutlich: „Richter aber sieht nur, was sie sehen will. Was sie nicht sehen will, lässt sie weg. Sowohl der militärische Männerdrill des Kaiserreiches wie auch die Degradierung zum Menschenmaterial in der beginnenden Industriegesellschaft sind ihr keine große Überlegung wert.“
Wirschings Bild einer Einheitsfront ahnungsloser journalistischer Rezensenten, welche die Fachkritiker gezwungen habe, das ganz scharfe Messer auszupacken, ist eine Legende – eine umgekehrte Dolchstoßlegende, die der Entschuldigung der Messerstecher dient. Einem Rezensenten, der einfachste Fakten der allerjüngsten Zeitgeschichte so falsch darstellt wie Wirsching, wird man bei keinem quellenkritischen Einwand über den Weg trauen. Als Herausgeber der „Sehepunkte“ firmieren andere mächtige Männer (und eine Frau), darunter Andreas Fahrmeir und Hubertus Kohle. Nach ihren Angaben durchlaufen alle Rezensionen „ein mehrstufiges Begutachtungsverfahren“. Welche Zeitungen mögen diese Gutachter lesen? Am Ende etwa nur diese Zeitung, in der Stephan Speicher, Verfasser des Buches „Ort der deutschen Geschichte: Der Reichstag in Berlin“, Richters Werk empfohlen hat? Die „redaktionelle Betreuung“ von Wirschings Rezension lag in den Händen der „Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, der von ihm herausgegebenen Hauszeitschrift seines Instituts.
Richters Erfolg, so Wirschings letztes Wort, „streift die Grenze zum Skandalösen und hat das Zeug zu einer deutschen Affäre“. Damit kommt er zurück auf seine Polemik gegen den Untertitel, mit der er seine Rezension eröffnet. „Der Begriff ,Affäre‘ ist seiner ursprünglich neutralen Bedeutung längst entwachsen und trägt unverlierbar das Motiv des Peinlichen oder Skandalösen in sich.“ Dem Schüler des Strauß-Biographen Horst Möller fallen nur Affären vom Typ der „Spiegel“-Affäre ein; er überhört, dass auch die Liebesaffäre gemeint ist, wie in dem Buchtitel, den Richter parodiert: Rüdiger Safranski, Romantik: Eine deutsche Affäre.
Kann man Geschichte als Serie erzählen?
Auch die Geschichte der Deutschen mit der Demokratie war eine heimliche Liebe, gibt der freche Titel zu bedenken – gegen die volkspädagogisch immer noch herrschende Meinung, die Demokratie sei ein später Import. Eine Affäre, das ist etwas Anrüchiges. Der Hauch von Skandal ist gewollt, als das Westliche und Moderne wird das Mondäne markiert, Distanz gegenüber spießbürgerlicher moralischer Selbstgewissheit. Welche Form passt zu dem so zweideutig bestimmten Stoff? Wirsching zitiert aus der Einleitung: „Diese Geschichte präsentiert die Affäre der deutschen Demokratie als eine Serie – mit allen menschlichen Abgründen.“ Die Leitgedanken der sozialwissenschaftlichen Theorie, die das Moderne an der modernen Geschichte auf den Begriff brachte, stehen heute unter Schematismusverdacht. Richter bringt sie als selbstbewusste narrative Kniffe wieder ins Spiel, verspricht „eine Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und auch Zufälle sind“. Ende offen. „Es ist keine gradlinige Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre geht weiter. Die nächste Staffel folgt." Wirschings Kommentar: „Das erinnert eher an Netflix als an eine seriöse Publikation zur Geschichte der Demokratie in Deutschland.“ Hier zeigt sich die ganze Hilflosigkeit des akademisch befangenen Rezensenten: Eine überdeutliche Anspielung auf Netflix erinnert Wirsching an Netflix! Darum vergeben Fachzeitschriften Bücher an Fachleute.
Jansen zählt vier „aus wissenschaftlicher Sicht gravierende Schwächen“ auf, die „aus politisch-publizistischer Sicht“ den Erfolg des Buches wenigstens zum Teil erklären. Eine davon ist die Entscheidung für „Geschichtsschreibung als leicht konsumierbare ,Serie’“: die 326 Seiten Text sind unterteilt in jeweils 1-3 Seiten lange Kapitelchen, die auch nach mehreren Online-Sitzungen zur Entspannung gelesen werden können“. Es kommt Jansen nicht in den Sinn, dass die Hommage an ein Genre populärer Unterhaltung auch ein Kompliment an die umworbenen Leser ist, die sich im Prozess der Lektüre als demokratische Konsumenten wiedererkennen können. In der Gründerzeit der Geschichtswissenschaft ahmten die Historiker die ebenso populären wie innovativen Romane Sir Walter Scotts nach, ein gerichtetes, aber nicht kausal überdeterminiertes, mehr vom Ineinander der Ereignisse als vom Natur- oder Sittengesetz vorangetriebenes Erzählen. Die Scotts von heute schreiben für Netflix.
Jansen erweckt einen falschen Eindruck, wenn er suggeriert, dass wegen der leserfreundlich kleinteiligen Gliederung des Buches ungefähr alle zwei Seiten der Fokus wechselt. Eine typische, deutlich längere Episode, die das zweite Kapitel eröffnet, hat einen Skandal aus den Jahren vor 1848 zum beispielhaften Gegenstand: die Not der schlesischen Weber. Wirsching moniert, dass der Aufstand der Weber „als demokratisch motiviert missverstanden“ werde. Das ist falsch. Keineswegs unterstellt Richter den Webern demokratische Motive in dem Sinne, dass sie aus den Quellen Forderungen nach dem allgemeinen Wahlrecht oder auch nur nach politischer Mitbestimmung herauslesen würde. Niemanden, der im Deutschunterricht „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann in der Taschenbuchausgabe von Hans Schwab-Felisch gelesen hat, wird überraschen, dass Richter den Webern ein „traditionales Weltbild“ bescheinigt.
Strukturwandel durch Öffentlichkeit
Sie forderten „nicht den Umsturz, sondern verlangten die Aufrechterhaltung der alten Ordnung: einen angemessenen Lohn, respektvolle Behandlung und ein Ende des auftrumpfenden Protzens der Neureichen“. Aber für die Dynamik einer gesellschaftlichen Entwicklung, die den fundamentalen politischen Wandel förderte, indem sie Thema öffentlicher Erörterung wurde, kam es auf Motive nicht oder nur eingeschränkt an. Das ist einer der wesentlichen Gedanken des Buches: Die Demokratie bahnte sich ihren Weg, auch und gerade in Deutschland, ohne direkt oder unbedingt gewollt zu sein. Die Sache der Weber wurde öffentlich aufgegriffen, von Journalisten und Dichtern, und veränderte sich dadurch.
Die Forderung nach Abhilfe war an den König als den alten Feudalherrn adressiert, aber in der öffentlichen Darstellung stellte sich die Not der von der Industrialisierung bedrohten Handwerker als ein Versagen des Staates da, der die Erfüllung der Versprechen der preußischen Reformen schuldig geblieben war. Eine neue Empfindlichkeit gegenüber nackter Not wurde in der Sicht der Körperhistorikerin politisch virulent. Welche Interpretationen historischer Vorgänge überzeugen? Man möchte es mit einem Paradox sagen: Sie sollten gleichermaßen vertraut und originell wirken. Das gelingt Hedwig Richter in ihrer neuen Erzählung des alten Stoffes von den Webern. Bündig fasst die erste Überschrift des Kapitels ihre Interpretation zusammen: „Armut als Skandal“.
In der Geschichte der Demokratie waren nicht nur die Demokraten treibende Kräfte. Für die Prozessdynamik gerade dieser Form der politischen Ordnung gibt es das Wort „Demokratisierung“. Es ist aus den Kontroversen der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts geläufig. Nachdem Bundeskanzler Willy Brandt verkündet hatte, die Regierung wolle „mehr Demokratie wagen“, warnten liberal-konservative Politikwissenschaftler wie Wilhelm Hennis davor, auch die Bereiche des gesellschaftlichen Lebens jenseits der Politik nach den Prinzipien der Demokratie umzugestalten. Es ist eine der Überraschungen, die Richters Buch bereithält, dass Wort und Begriff der Demokratisierung schon ein Jahrhundert älter sind.
Ausgerechnet Treitschke
Richter führt Heinrich von Treitschke als Gewährsmann an, den Geschichtsschreiber, der durch seine Politikvorlesungen an der Berliner Universität die Stellung eines Lehrers der Deutschen im neuen Reich einnahm. In diesen Vorlesungen beschrieb Treitschke „ein historisches
Gesetz der Demokratisierung der Staatsformen“, von dem auch das Deutsche Reich von 1871 nicht ausgenommen war. Im Gegenteil, mit dem allgemeinen Männerwahlrecht war man laut Treitschke in Deutschland schon „an der äußersten Grenze angelangt“. Der Nationalliberale Treitschke ist als Lobredner des Machtstaats und Stichwortgeber des Antisemitismus ins nationale Gedächtnis eingegangen. Wirsching nimmt daran Anstoß, dass von Richter „ausgerechnet Heinrich von Treitschke als Kronzeuge der Demokratisierung“ benannt werde. Aber es macht die Demokratisierung als säkulares Phänomen erkennbar, dass ein Antidemokrat die Gewalt dieses Gesetzes auf den Begriff brachte.
Das Treitschke-Zitat ist für Wirsching ein Indiz dafür, dass Richter ein viel zu optimistisches Bild vom Demokratisierungspotential der Verfassung des Kaiserreichs habe. Sie folge „undifferenziert einer linearen Parlamentarisierungsthese, wie sie in der Forschung schon längst nicht mehr vertreten wird“. Die Rezension ist ein Beitrag zu einer Debatte unter Historikern, die im Jahr der Erinnerung an die Gründung des Reiches vor 150 Jahren mit erstaunlicher Heftigkeit ausgetragen wird. Erstaunlich sind Unfreundlichkeit und Grobheit dieses Streits, weil es an einem politischen Anlass fehlt. Erinnerungsfeiern in Anknüpfung an die früheren Reichsgründungs- und Sedantage finden nicht statt. Seitens der höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik wurde erklärt, es gebe über die staatsrechtliche Fortexistenz des 1871 geschaffenen Gebildes hinaus keine irgendwie bedeutungsvolle Kontinuität.
Wer sind die Nationalisten?
Dennoch hat der Marburger Historiker Eckart Conze seinen Beitrag zum Jubiläum, der im Deutschen Taschenbuch-Verlag erschienen ist, sich also ebenso wie Richters Buch an das große Publikum wendet, als Attacke angelegt. Er führt einen Angriff gegen eine kleine Gruppe von Kollegen, die angeblich eine „neo-nationalistische“ Agenda verfolgen, wenn sie etwa in Übereinstimmung mit einer stabilen Tendenz der internationalen Forschung betonen, dass Deutschland nicht mehr die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg aufgebürdet werden könne. Conze schrieb in der „Zeit“ einen (in Wirschings Feuilletonbilanz ebenfalls nicht berücksichtigten) Artikel gegen Richters fortschrittsfreundliche Kaiserreich-Deutung. Mit einem Verdikt, wie es auch der Bielefelder Schulgründer Hans-Ulrich Wehler in seinen Auseinandersetzungen mit Politikhistorikern wie Klaus Hildebrand routinemäßig herausgehen ließ, wirft jetzt auch Wirsching im Schulterschluss mit Conze Richter vor, dass ihre Interpretation „schlicht apologetisch“ sei. „Tatsächlich spielt Richter jenen neo-nationalistischen Kräften in die Hände, die die deutsche Geschichte gerne im Sinne einer gerade im internationalen Vergleich harmlos-demokratischen Linearität umschreiben würden.“
Nun mögen einzelne der Historiker, die Conze im Auge hat, gelegentlich tatsächlich politische Ideen vorgetragen haben, die auf eine Neujustierung der deutschen Staatsräson zielen oder vielleicht auch schon reagieren. Ob aber etwa eine EU-Kritik, wie sie in einer anderen zuständigen Wissenschaft, dem Staatsrecht, von sehr vielen Fachvertretern vorgetragen wird, schon als „neo-nationalistisch“ klassifiziert werden kann, ist eine Frage des politischen Streits. Für die Wissenschaft wirft die von Conze und Wirsching propagierte Gefahrenabwehr die Frage der intellektuellen Kosten auf. Die Probe, ob nicht im Namen des Gegnerbekämpfung Sachzusammenhänge zu sehr vereinfacht werden, sollte eigentlich zum Arsenal der wehrhaften Demokratie gehören, sofern die Demokratie auch im Abwehrmodus ihrem experimentellen Genius treu bleiben möchte. Denn eigentlich ist die Demokratie ja, um Hedwig Richters Register der Liebesmetaphorik zu bemühen, mit der Empirie verheiratet.
Wirschings Rezension lässt vor diesem Hintergrund auch Rückschlüsse auf sein Amtsverständnis als Direktor des Instituts für Zeitgeschichte zu, das eine Institution der wehrhaften Demokratie sein soll. Er wirft Hedwig Richter Verharmlosung vor. Aber das Gegenteil ist richtig: Sie arbeitet die Momente von Gefahr und Gefährdung heraus, betont durchgehend, dass sich im historischen Prozess der Demokratisierung die guten und die schlechten Seiten, die vernünftigen und die unvernünftigen Potentiale nicht so sauber separieren lassen, wie das normativ nötig ist. So kann sie einerseits das Zukunftsträchtige im Verfassungsleben des Kaiserreichs akzentuieren und andererseits klarstellen, dass der Nationalsozialismus die deutsche Demokratie nicht von außen traf.
Ein Mangel an historischer Phantasie
„Eigentümlich“ nennt Jansen Richters Überschrift zu den Spielräumen innerer Politik nach 1871, „Ambiguitätstoleranz des verfassten Staates“. Diese Ratlosigkeit illustriert im Kleinen noch einmal, wie hier eine neugierige, aufgeweckte, mit schneller Auffassungsgabe und Lust am pointierten Mitreden gesegnete Historikerin und eine in sich selbst kreisende Fachwissenschaft aneinander vorbeireden und wohl leider auch vorbeidenken. Durch den Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat der Begriffskreis der Ambiguität jüngst eine große Resonanz in jener Zwischenwelt der intellektuellen Öffentlichkeit gewonnen, in der Wissenschaft und Politik zusammenkommen. Der psychologische Fachbegriff der Ambiguitätstoleranz mag zum Modewort geworden sein, eines der „buzzwords“, deren Verwendung durch Richter Stefan Reinecke als Merkmal ihrer Rhetorik erwähnt, aber auch intellektuelle Moden können etwas aufschließen und Anlass zur Überprüfung von Überlieferungsbeständen und erstarrten Interpretationen liefern.
Richter ist eine demokratische Historikerin in der erkenntnistheoretischen Tradition des amerikanischen Pragmatismus, wenn sie einfach mal ausprobiert, was man am Kaiserreich durch die Linse des Begriffs der Ambiguitätstoleranz zu sehen bekommt. Wirsching hingegen fehlt es offenkundig leider an dieser Toleranz als einer intellektuellen Tugend, am Sinn für die dialektischen und ironischen Momente der Geschichte. Wenn etwas dran ist an der Überlegung des amerikanischen Pragmatisten Richard Rorty, dass in der Entwicklung demokratischer Gesellschaften Kontingenz, Ironie und Solidarität zusammengehören, kann man das bedauern.
Die Originalität, die Jansen im Gegensatz zu Wirsching und Augstein dem körpergeschichtlichen Ansatz zuspricht, bleibt in den Augen des Trierer Historikers ein uneingelöstes Versprechen der Autorin. „Statt den Zusammenhang zwischen Körper, Gender und Demokratisierung in seinen Ambivalenzen historisch herzuleiten und zu veranschaulichen, plustert sie sich auf und provoziert Widerspruch.“ Das ist unglücklich formuliert. Anmaßung, die Haltung, die mit dem Vogel im aufgerichteten Federkleid verbildlicht wird, sollte man sich im demokratischen Disput unter Fachgenossen nicht ohne Not vorwerfen. Und wünscht man sich nicht von Büchern, die echten Stoff zum Nachdenken liefern, dass sie Widerspruch hervorrufen und es auf Widerspruch angelegt haben?
Worum geht es im Historikerstreit um Hedwig Richter? Ihre Kritiker aus der Zunft tun sich schwer mit der historischen Phantasie. Jenseits des Neides erklärt eine doppelte Provokation den maßlosen Widerspruch, den Richter bei Fachkollegen auslöst. In der Form stört das Spielerische, die gewagte Kombination von Thesenbildung und Enthusiasmus. Freudlos wird von Jansen „emotionaler Überschwang“ gerügt, „ein Verstoß gegen das Gebot als Wissenschaftlerin, möglichst objektiv, nüchtern und kritisch zu schreiben“. In der Sache ist das Skandalträchtige, dass für Hedwig Richter auch der Nationalsozialismus ein Kind aus der Verbindung der Deutschen mit der Demokratie ist. Wirsching fasst sie mit dem Satz zusammen: „Am Ende stehen auch die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und mit ihnen der Nationalsozialismus in einem strukturellen Zusammenhang mit der Demokratie.“ Für den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte ist dieser Schluss der Inbegriff des Unwissenschaftlichen und Falschen. Der Hitler-Biograph Thomas Weber hat Wirsching auf Twitter entgegnet, dass Hedwig Richter „doch vollkommen recht“ habe.