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Streit um Hedwig Richter : Eine umgekehrte Dolchstoßlegende

Tritt Hedwig Richter zu häufig im Fernsehen auf? Bei Anne Will wurde sie am 8. November 2020 als Expertin zur amerikanischen Demokratie befragt. Bild: NDR/Wolfgang Borrs

Mächtige Fachkollegen überziehen die populäre Historikerin Hedwig Richter mit maßloser Kritik. Man nimmt ihr übel, dass sie mit Begeisterung schreibt und dass sie den Nationalsozialismus als illegitimes Kind der Demokratie sieht.

          13 Min.

          In den deutschen Geschichtswissenschaften sind die beiden wichtigsten Rezensionsorgane Internetportale: H-Soz-Kult, verwaltet an der Humboldt-Universität zu Berlin, und „Sehepunkte“, finanziert vom Freistaat Bayern und betreut an den Universitäten in München und Mainz. Beide Journale haben jüngst einem bei C. H. Beck verlegten Buch scharfe Verrisse gewidmet: „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ von Hedwig Richter. Das ist ungewöhnlich genug – der „grobe Ton“ (Thomas Steinfeld) entschiedener Kritik, der im neunzehnten Jahrhundert so etwas wie ein Markenzeichen der deutschen Wissenschaft war, ist aus dem Rezensionswesen weitgehend verschwunden. Aber die Parallelaktion ist mehr als ungewöhnlich, sie ist außergewöhnlich. Attackiert wird nicht nur das Buch, sondern zugleich die Person der Autorin, geboren 1973, die in Köln mit einer Arbeit über den „Pietismus im Sozialismus“ promoviert wurde, sich in Greifswald mit einem Vergleich der „Modernen Wahlen“ in Preußen und in den Vereinigten Staaten habilitierte und 2019 einem Ruf an die Universität der Bundeswehr in München folgte. Beide Rezensenten stellen die intellektuelle Redlichkeit und die wissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit Hedwig Richters in Abrede.

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

          Die Kritik von Christian Jansen, Professor in Trier, erschien bei H-Soz-Kult in gekürzter Fassung, um einige Spitzen bereinigt. Er machte die Originalfassung bei Academia.edu öffentlich, einem Portal ohne redaktionelle Gatekeeper, wo Akademiker Publikationen zum Download vorhalten. Jansen macht Richter den Vorwurf, in ihrem für ein großes Publikum geschriebenen Buch ein Desiderat künftiger Forschung zu formulieren, die stärkere Berücksichtigung der Frauen in den Revolutionen von 1848, aber die Mitforscherinnen zu verschweigen, die diesen Wunsch schon erfüllt hätten.

          „Das ist wohl eine probate Strategie, um bei allen, die den Forschungsstand nicht kennen – und dazu gehören viele Rezensent:innen und Preisjuries – Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dennoch bleibt es ein Verstoß gegen die Pflicht einer Hochschullehrerin, durch die eigene wissenschaftliche Praxis als Vorbild für Studierende zu wirken.“ Die gute wissenschaftliche Praxis ist in der Wissenschaftsethik und im Wissenschaftsrecht ein technischer Begriff. Verstöße gegen Standards guter wissenschaftlicher Praxis werden bestraft. Richter wird hier in die Nähe von Plagiatoren gerückt. Der Vorwurf lautet auf Täuschung – wobei ihr der Erfolg ihrer „Strategie“ leichtgemacht worden sein soll durch nichtprofessionelle oder scheinprofessionelle Leser, die sich angeblich gerne täuschen lassen. Die Schärfe von Jansens Einspruch erklärt sich daraus, dass er mit dem Buch zugleich die Personen und Instanzen außerhalb der Wissenschaft treffen soll, die das Buch gelobt haben.

          Am 15. März ist die Rezension von Andreas Wirsching bei „Sehepunkte“ publiziert worden. Sie fällt noch einmal schärfer aus: „Tatsächlich unterschreitet Hedwig Richter systematisch all jene wissenschaftlichen Standards, die ihre Kolleginnen und Kollegen in ihren Proseminaren den Studierenden zu vermitteln suchen.“ Alle Standards und systematisch, nicht etwa einzelne und punktuell. Noch einmal ein ganz eigenes Kaliber ist dieser Verriss wegen der Person des Rezensenten. Wirsching ist der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, einer der mächtigsten Männer der Geschichtswissenschaft. Kraft Amtes ist er auch wie niemand sonst für Hedwig Richters Thema zuständig: Aufgabe des Instituts für Zeitgeschichte ist die wissenschaftlich gegründete historisch-politische Aufklärung im Interesse der Stärkung der Demokratie.

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