Manfred Spitzers „Digitale Demenz“ : Mein Kopf gehört mir
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Das menschliche Gehirn. Verminderungen der Hirnsubstanz zeigen sich fast ein Jahrzehnt bevor erste Symptome einer Alzheimer-Demenz auftreten. Bild: dpa
Angeblich können uns die Hirnforscher beim Denken zuschauen. Angeblich wissen sie, was uns dumm und gewalttätig macht. Stimmt leider nicht, wie man an dem Bestseller von Manfred Spitzer sehen kann. Eine Zurückweisung.
Wer wirklich noch nicht wusste, was längst so viele zu wissen glauben, der hatte in der vergangenen Woche reichlich Gelegenheit, die Gassenhauer der zeitgenössischen Medienkritik noch einmal auf allen Kanälen um die Ohren gehauen zu bekommen. „Wir klicken uns das Gehirn weg“, lautet die Formel, auf die der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer die Klage bringt, die als gefühlter Beipackzettel längst jedem Killerspiel beiliegt: Computer machen dumm. Dick. Süchtig. Einsam. Gewalttätig. Und lauter andere gefährliche Dinge. Auf dreihundertfünfzig Seiten versammelt Spitzer in seinem neuen Buch noch einmal die beliebtesten Merksätze und Borniertheiten des Genres: Lesen lernt man nur durch Lesen. Multitasking funktioniert nicht. Echte Freunde sind besser. Googeln ist nicht denken.
„Digitale Demenz“ ist ein unleserliches Buch, ein aus rostigen Studien, lahmen Alltagsweisheiten und gebrauchten Papers zusammengeschweißtes Konvolut, und wenn man ihm die Ferne zu seinem Gegenstand nicht auf jeder Seite ansehen würde, würde man ein Computerprogramm aus dem Internet für seinen Autor halten. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn man kein Wort mehr darüber verlöre. Dummheitsbücher haben Konjunktur, das wird sich so schnell nicht ändern. Doch leider ist Spitzers Beitrag nicht einfach der übliche Kulturpessimismus; es ist Kulturpessimismus im Gewand der Naturwissenschaft.
Spitzer verbreitet nicht seine Meinung, er doziert Gesetze. Sein Auftritt ist der eines Notarztes. Jeden Hinweis auf die Vielschichtigkeit seines Themas weist er mit der Dringlichkeit der Behandlung zurück. Seinen Leser begegnet er wie Patienten. „Was hab ich, und was kann ich tun?“, schreibt er, das sei die Frage, die es zu beantworten gelte. Und unterschlägt, dass sich die Schmerzen erst aus seiner Diagnose ergeben: Es sind ja nicht die dummen Kinder, die in seine Sprechstunde kommen, sondern die Eltern, die die virulente Sorge um deren geistige Verfassung krank macht.
Zusehen, wenn das Hirn tut, was es tut
Spitzers Buch, das sich innerhalb weniger Tage an die Spitze der Bestsellerliste schob, ist nur das neueste Beispiel für den Aufstieg der Hirnforschung zur zuständigen Instanz für die Beantwortung gesellschaftlicher Fragen. Das Versprechen, das sie gibt, ist nicht nur jenes von der „Lesbarkeit des Menschen“, wie Andreas Bernard kürzlich im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb, sondern, wie man an Spitzers Selbstverständnis erkennen kann, auch das der Behandelbarkeit aller sozialen Pathologien. Als medizinische Disziplin bietet sie nicht nur Diagnosen, sondern auch Therapien. Bei Doktor Spitzer etwa reicht eine konsequente Mediendiät, um sich vor den Gefahren der grassierenden Computerpest zu schützen. So ein Ansatz klingt natürlich insofern beruhigend, als sich gesellschaftliche Mängel einfach auf der individuellen Ebene beheben lassen. So verhilft paradoxerweise ausgerechnet jene Wissenschaft, deren biologistischer Determinismus den freien Willen so gerne in Frage stellt, dem angeschlagenen Subjekt zum Comeback. Im Hirn jedes Einzelnen liegt die Software, die über sein Schicksal entscheidet: Glück, Erfolg, Intelligenz, soziale Kompetenz oder Gesundheit - all das ist letztlich nur Effekt eines sorgsamen Trainings der grauen Zellen.
Ihre Autorität gewinnen die Erkenntnisse der Hirnforschung vor allem aus den bunten Bildern der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). Weil sich dieser Blick ins Innere des Kopfes auch bei lebenden Menschen relativ unkompliziert vornehmen lässt, kann man so einem Hirn auch dabei zusehen, wenn es tut, was es eben tut: Sauerstoff verbrauchen, Glucose verbrennen, Botenstoffe ausschütten, Synapsen bilden.