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Kriegsgebiet Ostukraine : Lugansker Heimatkunde

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Gepäckkontrolle am 22. September in Majorska, an der Grenze zwischen ukrainischem und von pro-russischen Separatisten kontrolliertem Gebiet Bild: Getty

Flüchtlinge aus der Volksrepublik Lugansk versuchen im freien Teil der Ukraine einen Neustart. Einige bereiten sich sogar schon auf die Wiedervereinigung vor.

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          Der von Russland angezettelte und alimentierte Krieg in der Ostukraine hat tausende Todesopfer gefordert, fast zwei Millionen Menschen vertrieben und Freunde, Verwandte, langjährige Kollegen voneinander getrennt. Im Gebiet von Lugansk, wo prorussische Rebellen die kleinere und im Vergleich zur Donezk militärisch ruhigere Volksrepublik errichteten, hat sich im freien Teil die beschauliche Industriesiedlung Sewerodonezk als neue Hauptstadt etabliert, wo der Gouverneur sitzt, wo Teile der Universität, des Theaters und der Philharmonie von Lugansk einen neuen Ankerplatz fanden und wo das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen Quartier bezogen hat.

          Kerstin Holm
          Redakteurin im Feuilleton.

          Dass im Herbst obendrein ein gesamtukrainisches Ensemble mit deutschen Gästen Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Don Giovanni“ auf die Bühne brachte, zeigt, dass das Dreißigtausendseelennest ein nationales Kulturlabor mit internationaler Beteiligung geworden ist.

          Der Gemüsegarten als letzte Rettung

          Im sachlichen Hochschulgebäude, wo auch die Lugansker Universität untergebracht ist, empfängt uns der Dekan des Lehrstuhls für Wirtschaft und Verwaltung, Ruslan Galasch, mit einem seiner Studenten, Wladislaw Konew. Beide stammen aus dem besetzten Lugansk. Der 42 Jahre alte Galasch war im Sommer vor vier Jahren überstürzt mit seiner Familie aus Lugansk geflohen, nachdem Terroristen ihn mit der Maschinenpistole bedrohten, erzählt er. Anfangs habe er damit gerechnet, bald nach Lugansk zurückkehren zu können, aber das werde immer unwahrscheinlicher. Im besetzten Lugansk seien vor allem ältere, ärmere und weniger engagierte Dozenten und Studenten geblieben, so der Gelehrte.

          Während die Universität in Sewerodonezk ihre Lehre modernisiert und von der Europäischen Union unterstützt wird, habe sich die Hochschule im besetzten Lugansk auf den russischen Arbeitsmarkt ausgerichtet und auch den Geschichtsunterricht auf die moskowitische Lesart umgestellt.

          Die Familie des 25 Jahre alten Wladislaw Konew wohnt weiter in Lugansk. Wie so viele war seine Mutter mit ihm vor den Rebellen nach Kiew geflohen, nach einem Jahr aber zurückgekehrt, weil sie es nicht einmal einfachste Arbeit finden konnte. Ein Jahr habe er dort den Gemüsegarten bestellt, berichtet Konew, aber nebenher gelernt und schließlich nicht nur einen Studienplatz in Sewerodonezk, sondern auch ein Stipendium bekommen. Das beträgt umgerechnet vierzig Euro monatlich, dazu kommen zwölf Euro staatliche Hilfe für Binnenflüchtlinge, womit er, da schon sein Zimmer zwanzig Euro kostet, kaum über die Runden kommt.

          Studenten werden als Dozenten eingestellt

          Doch Konew ist hochmotiviert. Das heimatliche Lugansk werde von Russland ausgeblutet, sagt er bitter, die Maschinenbaufabrik wurde abmontiert und an den Ural verfrachtet, an der Universität sei das Niveau abgestürzt. Freischärler bekämen Studienplätze, Studenten würden als Dozenten eingestellt. Seine Mutter habe noch immer keine Arbeit, nur ein Dach über dem Kopf und den Gemüsegarten, sie lebe mit der Großmutter von deren Minirente.

          Wenn Konew die beiden im kaum hundert Kilometer entfernten Lugansk besucht, verbringt er jedesmal drei Stunden am einzigen Grenzübergang in Staniza Luganskaja mit seiner zerschossenen Brücke. Diesen beschwerlichen Weg haben auch die beiden Lugansker Schullehrer Alexander und Sergej genommen, die einen nach Sewerodonezk geflohenen Freund bei der hiesigen Philharmonie besuchen, in dessen Wohnung wir sie treffen. Auch diese Pädagogen, die selbst Familien haben, waren zunächst aus dem besetzten Lugansk geflohen und nach einigen Monaten zurückgekehrt, weil sie es nicht schafften, sich in der Ukraine eine neue Existenz aufzubauen. Vor allem aber habe er sich für die Schulkinder in Lugansk verantwortlich gefühlt, die vom Krieg traumatisiert seien, etwas lernen wollten und ihre Hoffnung auf ihn setzten, bekennt Alexander.

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