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Kulturforscherin Sianne Ngai : Diese Masche müsste mal geröntgt werden

Ihr Blick hat alles auf dem Schirm, was ästhetisch los ist: Sianne Ngai bei der Arbeit an einer Designtheorie für bequeme Stühle. Bild: Saverio Truglia

„Gediegen“ und „klassisch“ war früher, heute sagt man „cool“ oder „nervig“: Die Schriften der Kulturforscherin Sianne Ngai durchleuchten das Gesamtfeld gegenwärtiger Kunstpraxis und ihrer Affektwirtschaft.

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          Kunst wird dumm, wenn sie nur clever sein will. Ob ein Kiffer im Computerstudio Gitarrenspuren aus antikem Rock um elektronische Fußtritte wickelt und das Ergebnis „Big Beat“ nennt, ob Ai Weiwei das nie gebaute Denkmal der Dritten Internationale von Wladimir Tatlin als Weihnachtsbaum nachbastelt, damit man sich was Kunsthistorisches denkt, oder ob ein Superhelden-Comicverlag per digitaler Nachbearbeitung Bleistift-und-Tinte-Bilder verwischt, damit sie wie Fotos aussehen, auf denen eilige Bewegungen nur verschmiert erfasst werden können – jedes Übergewicht der Kunstmittel über den Kunstzweck (Erbauung, Unterhaltung...) liefert die Kunst der Masche aus. Das kann auch als Zurückweisung von Technik auftreten: Akustikinstrumentgottesdienste („unplugged“) gehören zu den kalkülsichersten Maschen der Popmusik.

          Dietmar Dath
          Redakteur im Feuilleton.

          Auf Englisch nennt man die Masche, wenn sie als Pointe, der ihr Witz entfallen ist, auf Kunst hockt und kräht, meist „Gimmick“. In Deutschland wurde dieses Wort durch das Comicmagazin „Yps“ bekannt, wo es Gelddruckmaschinen, aufblasbare Marsmenschen oder Plastikbazillen bezeichnete, die dem Heft beigegeben wurden, damit’s mehr Leute kaufen. Im angloamerikanischen Sprachraum ist mit „Gimmick“ nicht einfach ein Kunstverfahren gemeint, das zuvor etablierte Kunstpraxis auffällig übertrumpft, sonst wären der Tonfilm oder der innere Monolog heute noch Gimmicks. Das Wort bezeichnet eher ein Verhältnis des Publikums zu etwas Ästhetischem als eine Eigenschaft desselben, eine spezifische Mischung aus effektgetrieben erzwungener Aufmerksamkeit, Genervtsein, Unter- und Überfordertheit zugleich. Wer etwas ein Gimmick nennt, äußert einen Vorbehalt: Will man mir hier womöglich etwas andrehen? Glaubt man, ich fiele darauf rein, wie die Unbedarften?

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