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Ukraine-Krieg : Cancel Culture gegen Russen

  • -Aktualisiert am

Die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf Bild: Hans Jörg Michel

Europäische Kulturinstitutionen überschlagen sich geradezu mit der Ausladung russischer Künstler. Sind es weise Entscheidungen?

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          Ganz Russland? Nein. Aber was bliebe von der russischen Kultur eigentlich übrig, wenn sich der rauschhafte Drang fortsetzte, russische Künstler jeglicher Gesinnung vom Kulturbetrieb auszuschließen? Eine Mailänder Universität wollte sogar Dostojewski aus dem Seminar verbannen. Diesmal nicht, weil er ein alter, weißer Mann war, dessen Schriften Unwohlsein bei den Studenten auslösen könnten, sondern weil er das Pech hat, ein Russe gewesen zu sein. Die Entscheidung wurde nach Protest revidiert. Andere bleiben bestehen.

          Manche von ihnen sind vertretbar wie die kurzfristige Absage von Schostakowitschs Operette „Moskau, Tscherjomuschki“ am Staatstheater Augsburg. Das satirische Stück über Vetternwirtschaft in der Moskauer Funktionärs aktuellen Gemütsstimmung der ukrainischstämmigen Musiker, die an der Aufführung beteiligt wären, erklärt die Bühnenleitung. Kann man verstehen. Wo er nicht Stützen von Putins System trifft, wirkt der Boykott dagegen billig. Die Weigerung, zwischen Kunst und Politik zu unterscheiden, führt dazu, dass die falschen getroffen werden und kritische Stimmen ihr Podium verlieren.

          Ist Dmitry Bertman ein solcher Mann? Der Intendant der Moskauer Helikon-Oper, der nicht als Putinist aufgefallen ist, sollte an der Deutschen Oper in Bonn Umberto Giordanos Revolutionsoper „Andrea Chénier“ dirigieren. Das darf er nun nicht, die Entscheidung richte sich nicht gegen Bertman persönlich, sei aber angesichts des kriegerischen Konflikts unumgänglich, lässt sich die Oper vernehmen. Tatsächlich?

          Putins Atomwaffen verurteilen die westlichen Staaten faktisch in die Zuschauerrolle. Diese Ohnmacht und vielleicht auf Versäumnisse der Vergangenheit durch ein symbolpolitisches Feuerwerke zu überspielen, während zugleich Ukrainer von richtigen Waffen getötet werden, hat etwas Unangemessenes; es verlangt anderen eine Risikobereitschaft ab, die man sich selbst erspart. Glaubt man ernsthaft, das russische Volk würde sich aus Wut über den Ausschluss seiner Künstler vom westlichen Kulturmarkt gegen Putin erheben? Im politisierten Kulturbetrieb sind Scheindissidenz und moralische Bereicherung eingeübte Reflexe. Daran hat der Krieg nichts geändert. Es wirkt nur besonders auffällig.

          Thomas Thiel
          Redakteur im Feuilleton.

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