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Kultur und Corona : Vor dem Ersticken

Auch das Opernhaus in Frankfurt wird noch mindestens bis zum 31. August leer bleiben. Bild: dpa

Wenn Friseure und Autohändler wieder öffnen, stehen Theater, Opernhäuser und Museen weiter am Abgrund. Wie die Kultur bei der Corona-Bekämpfung den Kürzeren zieht.

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          Es sei wie beim Luftanhalten, sagte der Hamburger Bürgermeister Tschentscher im Fernsehen über die Wirkung der öffentlichen Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie: Erst falle es leicht, dann immer schwerer, und am Ende werde es unerträglich. Das hat, was die Stimmung im deutschen Kulturbetrieb angeht, eine gewisse Beschreibungsqualität, aber im Kern ist der Vergleich trotzdem falsch. Denn die Kultur hält nicht freiwillig die Luft an. Sie wird ihr abgedrückt. Und die Hand an ihrer Kehle lässt nicht locker, im Gegenteil, sie festigt ihren Griff im Namen der epidemiologischen Vernunft.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Buchläden dürfen also wieder aufmachen, neben Friseuren, Autohändlern, Baumärkten und Parfümerien. Aber Theater, Opern- und Konzerthäuser, Kinos, Museen und Galerien bleiben weiter geschlossen, weil es die Exekutive befiehlt. Ein Kleiderkaufhaus darf Hemden, Hosen und Jacken auf achthundert Quadratmetern feilbieten, eine Ausstellung auf derselben Fläche ist verboten. Supermärkte dürfen ihre Kunden mit oder ohne Schutzmasken empfangen, Theater selbst mit Maskenpflicht und Sicherheitsabstand – etwa indem nur jeder zweite Sitzplatz verkauft und auf der Bühne entsprechend agiert wird – keine Vorstellungen zeigen.

          In den Empfehlungen der Leopoldina war die „Wiederherstellung der kulturellen Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger“ immerhin noch erwünscht, das Beschlusspaket des Bundes und der Länder vom Mittwoch dagegen schiebt die Kultur in den Anhang, der die weiterhin gültigen Schließungsanordnungen aufführt, zwischen „Gastronomiebetriebe, Bars, Clubs“ und „Prostitutionsstätten“, zwischen Bier und Bordell.

          Großveranstaltungen länger verboten

          „Wir haben uns jetzt entschieden, das erst in einem zweiten Schritt zu diskutieren.“ Stattdessen diskutierte und monologisierte Markus Söder bei der Pressekonferenz zu den neuen Corona-Maßnahmen lieber weitschweifig über die Tragödie der Biergärten, die trotz des schönen Wetters nicht aufmachen dürften, weil man ja mit Gesichtsschutz logischerweise nichts essen und trinken könne. Eine kulinarische Katastrophe, fürwahr – aber was ist mit der Notlage von Hunderttausenden Kulturschaffenden, deren Einnahmen gleichfalls auf null gefahren wurden?

          In den meisten Bundesländern müssen freie Musiklehrer, Schauspieler, Orchestermusiker, Regisseure, Kostüm- und Bühnenbildner nach wie vor die pedantische Bedarfsprüfung nach den Hartz-IV-Regeln durchlaufen, wenn sie ihre Existenz über die kommenden Monate retten wollen. Nur ein Bruchteil von ihnen, so hat der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) in einer Befragung ermittelt, unterzieht sich bislang dieser demütigenden Prozedur, der Rest hofft auf bessere Zeiten.

          Aber diese Zeiten kommen nicht. „Großveranstaltungen“ sind mindestens bis zum 31. August verboten. Wie groß ist ein Ballettabend? Ein Kammerkonzert? Eine Ausstellung? Eine Filmvorführung? Kultur sei ein Ausdruck von Humanität, sie habe „einen existentiellen Stellenwert“, hat die Kulturstaatsministerin vor drei Wochen in einem Gespräch mit dieser Zeitung erklärt. Nach den Corona-Beschlüssen vom Mittwoch muss man die Kulturstaatsministerin korrigieren: Die Erzeugnisse der Branche, für die sie zuständig ist, gehören für die Regierungen von Bund und Ländern im Krisenfall nicht zu den Lebensmitteln, sondern zu den Genussmitteln. Wenn die Kneipen nicht öffnen dürfen, so muss man Söders Biergarten-Arie verstehen, dann sollen es die Kinos auch nicht tun.

          Wer Autos kaufen kann, braucht kein Konzert – oder besorgt es sich als digitale Konserve. Was das bedeutet, könnten wir womöglich schon im Herbst erkennen, wenn viele jener kleinen Filmtheater, Privatbühnen oder Ausstellungshäuser, an denen Reichtum und Vielfalt der hiesigen Kulturbranche hängen, trotz staatlicher Erlaubnis nicht mehr aufmachen, weil ihnen die Luft ausgegangen ist. Es ist wahr, noch hält die Kultur den Atem an. Aber die Frist, die ihr bis zum Erstickungstod bleibt, läuft rasend schnell ab.

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