Russland und Ukraine : Der Sieg des emotionalen Faktors
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Wenn Familien wiedervereint werden: Ein ukrainischer Seemann begrüßt seinen Sohn, nachdem er im Rahmen des Gefangenenaustausches mit Russland freigelassen wurde. Bild: EPA
Längst ist der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine keine rein politische Angelegenheit mehr – das zeigten auch die Diskussionen vor dem Gefangenenaustausch. Ein Gastbeitrag.
In der Ukraine redet man in diesen Tagen über die Heimkehr der von Russland festgehaltenen Seeleute und politischen Gefangenen. Alle haben etwas über sie gesagt – die Politiker, die es für ihre Pflicht halten, auf eine so öffentlichkeitswirksame Sache zu reagieren, Journalisten, die in der Geschichte eine Insider-Information zu finden versuchen, bekannte Blogger und gewöhnliche Nutzer der sozialen Netzwerke. Das Ereignis erwies sich tatsächlich als wichtig – sowohl für die Machthaber, die versuchen, durch die Heimführung ihrer Bürger viele gesellschaftliche Fragen auszublenden, als auch für diejenigen, die diesen Machthabern gegenüber skeptisch sind.
Für die Ukraine wurde der Austausch symptomatisch, weil er zeigte, dass trotz harter politischer Gegensätze und einem allgemeinen Unwillen zum Kompromiss die Ukrainer doch eine Gesellschaft sind, die Begriffe von gegenseitiger Unterstützung und Solidarität verbindet. Die Ukraine hat ihre Bürger wirklich wie Helden begrüßt, was besonders mit der Art kontrastierte, mit der Moskau seine 35 Leute empfing. In jüngster Zeit war dies fast das einzige Ereignis, das die Gesellschaft nicht spaltete, sondern einte.
Zwei gescheiterte, teils plumpe Versuche
Selbst der Widerstand gegen die Aggression Russlands wurde nicht zu solch einem einenden Faktor der Solidarität. Sogar der phänomenale Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj und seiner Partei zunächst bei den Präsidentschafts-, dann bei den Parlamentswahlen, ein Sieg, der aussah wie eine Demonstration von Einheit der ukrainischen Gesellschaft – bei den Parlamentswahlen gewann die Partei Selenskyjs in allen Regionen außer im Donbass und in Lemberg, was bisher keiner einzigen politischen Kraft im Land gelang – ist in Wirklichkeit eine Illusion. Denn die Ukrainer stimmten oft weniger für die neue Macht als viel mehr gegen die alte. Jeder Schritt der neuen Machthaber wird misstrauisch verfolgt. Und die Machthaber geben oft zu Skepsis Anlass.
Man braucht bloß an den ersten Versuch des Gefangenenaustausches zu erinnern, der eine Woche vor dem zweiten scheiterte. Damals lösten plumpe Erklärungsversuche von Vertretern der Mannschaft des Präsidenten eine heftige Welle von Kritik an Selenskyj aus und an seiner Methode, Außenpolitik zu betreiben. Es war klar, dass die Heimführung der ukrainischen Seeleute, die von Russland im vergangenen Jahr gefangen genommen wurden, und der politischen Gefangenen, die viele Ukrainer mit der russischen Aggression assoziieren, für die neuen Machthaber oberste Priorität hatte. Selenskyj, dessen Wahlkampagne auf eine Totalkritik von Petro Poroschenko baute und ständig die Unmöglichkeit hervorhob, dass die alte Präsidentenmannschaft ihre Bürger aus russischen Gefängnissen würde heimholen können, machte das Versprechen, die gefangenen Ukrainer heimzuholen, zu einer Hauptwahlaussage.
Auch vielen Ukrainern, die nicht prorussisch eingestellt waren, erschien es offensichtlich, dass der Kreml und Poroschenko sich über nichts würden einigen können, und dass Poroschenko in diesem Spiel keine Trumpfkarte im Ärmel hatte. Während Selenskyj seine Wähler überzeugen konnte, dass er es schaffen würde, mit Moskau ein Abkommen zu erzielen, Gefangene heimzuführen, Territorien zurückzuholen und den Krieg zu beenden. Wie er das machen würde, blieb unklar.