Kolumne „Import Export“ : Warum dieser Genozid nie endet
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Nichts ist mehr wie es einmal war: Viele Ezîden leben seit Jahren in Flüchtlingscamps wie diesem im Irak Bild: Helmut Fricke
Am 3. August wird des Völkermordes an den Ezîden gedacht. Er begann 2014 mit dem Einmarsch des sogenannten Islamischen Staates im Irak. Acht Jahre später ist die Situation der Überlebenden noch immer katastrophal.
Ich habe mir vorgenommen, jedes Jahr zum 3. August, dem Gedenktag des Genozids an den Ezîden, einen Text zu schreiben. Der Tag, an dem 2014 der sogenannte „Islamische Staat“ im Shingal im Irak einmarschierte, Frauen und Kinder versklavte, Männer ermordete. Ich habe mir vorgenommen, das so lange zu tun, bis der letzte IS-Täter verurteilt, die letzte Ezîdin aus der Gefangenschaft befreit, das letzte Massengrab exhumiert, das letzte IDP-Camp (für „Internally Displaced People“) aufgelöst wurde und die Ezîden wieder sicher in ihren Dörfern und Städten leben können. Oder „bis der Genozid vorbei ist“, wie ich es insgeheim formulierte, bis ich verstand, dass der Genozid nie wirklich vorbei sein wird, dass, was 2014 zerstört wurde, nicht wieder rückgängig, gar gut zu machen ist und es somit auch kein „wie vorher“ geben wird. Aber auch ohne „wie vorher“ sind wir von dem eben beschriebenen Zustand – Täter verurteilt, Häuser aufgebaut, Überlebende geschützt – weit entfernt. Doch was kann ich dieses Jahr schreiben, das ich nicht schon in den vergangenen Jahren geschrieben habe?
Die Situation der Ezîden ist auch acht Jahre nach dem Genozid noch miserabel. Die Regionalmächte sind, gelinde gesagt, wenig hilfreich. Die Türkei bombardiert seit Jahren das êzîdische Hauptsiedlungsgebiet Shingal und sorgt mithilfe ihrer islamistischen Söldner für ein Ausbluten der religiösen Minderheiten in Nordostsyrien. In dem seit 2018 besetzten Afrîn werden êzîdische Friedhöfe planiert, Schreine zerstört. Wieder und wieder gibt es Berichte von Entführungen und Vergewaltigungen. Seit dem Aufstieg des IS war die Türkei das Transitland Nummer eins für Dschihadisten aus aller Welt. Über die Türkei reisten sie zum IS. Das belegen die Stempel in den Pässen, die man nach Zerschlagung des Kalifats in Syrien gefunden hat. Doch nicht nur das, sogar türkische Waffen sollen an den IS geliefert worden sein, wie Recherchen der Zeitung „Cumhuriyet“ nahelegten.
Noch immer leben Zehntausende Ezîden in Flüchtlingscamps
Auch von Syrien ist nicht mehr zu erwarten. Zwar spielt sich das Regime als Schutzpatron der religiösen Minderheiten auf. Es entließ aber 2011, zu Beginn der Proteste, statt der säkularen Opposition Islamisten aus der Haft. Um die USA abzuschrecken, einen Regimewechsel herbeizuführen, unterstützte Assad schon 2003 Islamisten im Irak und ließ Dschihadisten über die syrische Grenze einreisen. Darunter auch Al-Qaida, die 2007 den opferreichsten Anschlag in der Geschichte des Iraks verübten – an Ezîden im Shingal. Und nicht zuletzt verabschiedete das syrische Regime 2021 ein Dekret, nach dem Ezîden keine eigenständige Religionsgemeinschaft, sondern eine islamische Sekte seien, für die islamische Personenstandsgesetze gelten, die ihre Angelegenheiten vor einem Scharia-Gericht zu regeln haben.
Nicht besser sieht es im Irak aus: die ewige Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten, die den Aufstieg des IS begünstigten, die andauernden Konflikte im Shingal zwischen schiitischen Milizen, irakischer Armee, PKK und den ihr nahestehenden Gruppen. Neben alldem ist das größte Vergehen des Iraks, den Genozid nicht verhindert zu haben. Und sowenig der Irak den Genozid verhinderte, so wenig Eifer zeigt er, die vertrackte Situation der Ezîden zu lösen: Noch immer harren Zehntausende Flüchtlinge in IDP-Camps aus und können nicht in das umkämpfte Shingal zurückkehren.
Die Erzählungen der Großmutter über das Morden
Als damals 21-Jährige, in Deutschland aufgewachsen, habe ich so einen Genozid nie für möglich gehalten. Es hatte im Irak zwar immer wieder Pogrome gegeben. Und natürlich kannte ich die Geschichten aus meiner êzîdischen Familie, von meiner Großmutter etwa, deren Vater ermordet wurde und die schon als Kind vor den Islamisten fliehen musste.
74 genozidale Massaker oder „Ferman“ (übersetzt: „Dekret eines islamischen Herrschers“) sind in der Geschichte der Ezîden überliefert. Dabei handelt es sich um eine symbolische Zahl: Der 73. Ferman war der Anschlag von Al-Qaida im Shingal 2007, der 74. der Genozid 2014. Beim Blick auf die jahrhundertelange Verfolgungsgeschichte sieht man: die Massaker, Vergewaltigungen, Zwangskonvertierungen. Auch die islamistische Ideologie, Inhalt zahlreicher Fatwas, ist nicht neu. Kurz gefasst lautet sie: Ezîden sind Kafir, Ungläubige, sie beten den Teufel an und haben kein Buch. Gegen Ezîden gehetzt wird übrigens auch dort, wo keine oder kaum Ezîden leben. So veröffentlichte das Religionsministerium in Qatar 2006 eine Fatwa, die Ezîden zu Ungläubigen erklärt. Hany al-Banna, der Mitbegründer der Hilfsorganisation Islamic Relief, sprach über Ezîden 2020 als „Teufelsanbeter“.
Erst im April ermittelte die Münchner Polizei wegen Hetze gegen Ezîden in einer Moschee. In den sozialen Medien geht es weiter: „Teufelsanbeter“, „Kafir“ werden sie genannt, von Leuten wie Arafat Abou Chaker oder von anonymen Accounts. Dass ich solch einen Genozid wie 2014 nicht für möglich gehalten habe, liegt daran, dass er hätte nie passieren dürfen. Ebenso wenig habe ich für möglich gehalten, dass heute noch 2800 Frauen und Kinder vermisst werden, dass Zehntausende in den IDP-Camps ausharren und nicht zurückkehren können. Die eine Tragödie ist der Genozid, die andere ist, was danach passierte – oder eben nicht passierte.