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Kölner Polizei : Die Regeln der Aussage

Was hat der Beamte, der den Bericht verfasst hat, selbst gesehen, was ist nur Hörensagen? Auch das gilt es im Nachgang zu klären. Bild: dpa

Ein Polizistenbericht versucht, nachträglich das Chaos der Kölner Silvesternacht zu ordnen – aber nicht alle Informationen darin können auf eigener Anschauung beruhen. Was soll man der Polizei noch glauben?

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          Die Kontrolle der Personalien mutmaßlicher Randalierer und Belästiger durch die Bundespolizei gestaltete sich in der Silvesternacht im Kölner Hauptbahnhof außerordentlich schwierig. Personen, die zum Vorweisen von Papieren aufgefordert wurden, sollen mit dem „Zerreißen von Aufenthaltstiteln“ reagiert haben, verbunden „mit einem Grinsen im Gesicht und der Aussage: ,Ihr könnt mir nix, hole mir Morgen einen Neuen‘“.

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

          So steht es im Bericht eines leitenden Bundespolizisten, der gestern auch in dieser Zeitung ausführlich zitiert wurde, weil er schauerliche Einzelheiten des Tatgeschehens der Schreckensnacht schildert und Einschätzungen eines Mitglieds der Einsatzleitung in dessen eigenen Worten wiedergibt. Die „Süddeutsche Zeitung“ gab an, niedergeschrieben worden sei der Bericht „am Tag, nachdem der betrunkene Mob auf Frauen losging, sie beklaute, begrapschte und auch vergewaltigte“, das heißt: am 1. Januar. So liest sich der Text auch: wie der Niederschlag der verstörenden Erlebnisse eines Menschen, der verstehen will, was er gerade mit angesehen hat und nicht verhindern konnte. Datiert ist der Bericht allerdings auf den 4. Januar. Das Datum ließ sich leicht überlesen: Zu stark ist der Eindruck der Unmittelbarkeit, als hätte der Beamte sich gleich nach Ende des überlangen Diensttages übernächtigt an den Schreibtisch gesetzt, um vor dem Einsetzen des Verdrängens noch alles festzuhalten. Zu diesem Eindruck tragen die vielen Rechtschreibfehler bei, die etwa der Westdeutsche Rundfunk im Interesse der Authentizität nicht tilgen wollte.

          Es ist nur ein Gedächtnisprotokoll

          Der 4. Januar war der Montag. An diesem Tag war die Diskussion über die angeblich unbemerkten oder vertuschten sexuellen Attacken in der Kölner Öffentlichkeit voll entbrannt. Die von der Polizeiführung beschönigten Ereignisse waren schon am Wochenende Gegenstand erregter polizeiinterner Erörterung. Wann immer im Laufe des 4. Januar der Bundespolizist seinen Bericht zu Papier brachte, er schrieb ihn unter dem Eindruck solcher Gespräche. Als Protokoll wird sein Text bezeichnet. Ja, es ist aber ein Gedächtnisprotokoll. Ob der Text eine dienstliche Funktion hatte oder nur der persönlichen Vergewisserung diente, ist unbekannt. Schon die Rede vom Polizeibericht suggeriert einen vielleicht gar nicht vorhandenen amtlichen Zweck. „Einsatzerfahrungsbericht“, wie man oft liest, ist kein Terminus technicus. Diese Bezeichnung trifft allerdings das subjektive Moment im Charakter des Textes: Es handelt sich um die Deutung eines Augenzeugen, sogar eines amtlich zuständigen, aber eben um eine Deutung, aus dem Abstand von vier Tagen.

          So deutlich wie verständlich ist die Absicht der Rechtfertigung des eigenen Verhaltens. Abschließend stellt der Autor fest, die „chaotische und beschämende Situation“ habe „zu einer zusätzlichen Motivation“ geführt. Seine Formel für die Gesamtlage ist „die uns gebotene Situation (Chaos)“: in jeder Einzelheit das Gegenteil der Ordnung, deren Schutz die Sache der Polizei ist. Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, einer der Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, wies darauf hin, dass auch Zeugenberichte von Polizisten nach den Regeln der Aussagepsychologie betrachtet werden müssen. Er hält es für zweifelhaft, dass ein Tatverdächtiger wirklich sagte, wie der Bundespolizist berichtet: „Ich bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich eingeladen.“

          Kann man der Polizei noch glauben?

          Nicht alle Informationen des Berichts können auf eigener Anschauung beruhen, manches ist Hörensagen. Nach dem Wortlaut sollen mehrere Personen ihre Aufenthaltstitel zerrissen haben. Hat jeder von ihnen auch gegrinst und den provokanten Spruch geäußert? Hier wurden verschiedene Vorkommnisse ineinandergeschoben. Aufenthaltstitel hat Deutschland bis 2011 in Form von Aufklebern im Pass ausgestellt, seitdem als Plastikkarte. Beide Arten von Dokumenten kann man nicht leicht zerreißen. Die Aufenthaltsgenehmigungen der Asylsuchenden sind keine Aufenthaltstitel.

          Kann man der Polizei noch glauben? Der Kölner Polizeipräsident täuschte die Öffentlichkeit, als er die Oberbürgermeisterin vortragen ließ, die Polizei habe keine Hinweise auf Flüchtlinge unter den Verdächtigen. Nach dieser Zerstörung des Vertrauens müssen auch die Zeugenberichte mit Vorsicht geprüft werden, die nun den Kritikern des früheren Polizeipräsidenten Munition liefern. An siebter Stelle unter den ekelhaften „Vorfällen“ der Silvesternacht führt der Bundespolizist auf: „Viele männliche Personen (Migranten) die ohne Reisabsichten in allen Bereichen des Bahnhofes ihren Rausch ausschliefen.“ Diese für Silvester eher typischen Schläfer können nicht alle Migranten gewesen sein, jedenfalls konnte man ihnen diese Eigenschaft nicht ansehen. Migranten ohne Reiseabsicht: Vor die zu Protokoll genommene massenhafte Ordnungswidrigkeit schob sich ein Bild für das politische Chaos der Flüchtlingskrise.

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