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Klimawandel : Der große Gleichmacher

  • -Aktualisiert am

Natur als Reserve für Krisenzeiten: Am Mount Kenya. Bild: AFP

Kapitalismus ist das Problem und nicht die Lösung: Wir sollten aufhören, Begriffe wie „Klimawandel“ und „CO2-Ausgleich“ zu benutzen – und endlich handeln. Ein Gastbeitrag.

          4 Min.

          Wetter und Klima sind plötzlich in den Mittelpunkt unseres Lebens gerückt und verlangen unsere Aufmerksamkeit, weil ihre Wechselfälle nun auch den globalen Norden getroffen haben. Einer der größten Irrtümer unserer Zeit besteht jedoch darin, zu glauben, der Klimawandel sei ein neues Phänomen, um das „wir“ uns jetzt Sorgen machen müssen beim Blick auf unsere Emissionen und unseren CO2-Fußabdruck. Die Wahrheit ist, dass die Treibhausgase sich in der Atmosphäre akkumuliert haben und wir jetzt den kumulativen Effekt dessen erleben, was es in den letzten zweihundert Jahren seit der industriellen Revolution an Emissionen gegeben hat.

          Es versteht sich von selbst, dass die ganze Menschheit in Schwierigkeiten steckt und alle gemeinsam daran arbeiten müssen, um die Herausforderungen zu bewältigen, die uns der Klimawandel auferlegt hat. Die Suche nach Lösungen muss jedoch mit Aufrichtigkeit angegangen werden, wenn wir Chancen auf Erfolg haben wollen. Deshalb müssen wir als Erstes den falschen gemeinsamen Begriff „Wir“ dekonstruieren, wenn es um die Verantwortung für Ursprünge und Triebkräfte des Klimawandels geht.

          Die Menschen in den Tropen (auch als „globaler Süden“ bezeichnet) kennen die extremen Unterschiede der Jahreszeiten nicht, wie sie für die gemäßigten Zonen typisch sind. Aber die innertropische Konvergenzzone, in der sie leben, unterlag schon immer extremem Wetter wie Dürren und Hochwasser. In Kenia und in einem Großteil Afrikas haben ländliche indigene Gemeinschaften Resilienzmechanismen entwickelt; dazu gehört auch, dass Schlüsselressourcen wie Quellen und Weideflächen im Hochland ausschließlich für Krisenzeiten „reserviert“ werden. In den meisten Gemeinschaften war das nicht nur eine materielle Überlegung, sondern eine soziale und gelegentlich auch spirituelle. Deswegen unterlag die Entscheidung über die Nutzung dieser Ressourcen ausgewählten Älteren, und einige dieser „reservierten“ Gebiete wurden auch für kulturelle Rituale und spirituelle Zwecke genutzt. Die Natur war daher Teil eines Kontinuums, das die Menschen, ihre kulturellen Strukturen, ihre spirituelle Haltung und ihre physiologischen Bedürfnisse einschloss.

          Der Druck war da

          Die Menschen im gemäßigten „globalen Norden“ dagegen haben sich immer als der Natur „äußerlich“ verstanden und sie als Ressource für Konsum und Ausbeutung benutzt. Das Ausmaß des Verbrauchs war allein limitiert durch die physische Kapazität der Verbraucher. Mit der industriellen Revolution ließ der Einsatz von Maschinen die Fähigkeit zum Konsum exponentiell wachsen. In Ergänzung dazu entstand der Kapitalismus, wodurch Verbrauch und Zerstörung der Natur vom Profitmotiv angetrieben wurden, weit über die anfänglichen individuellen Bedürfnisse hinaus.

          Der Autor ist Ökologe und Naturschützer in Kenia. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Vorwort zur Neuauflage des Klassikers „Yosemite“ von John Muir. (Matthes & Seitz, 25 Euro).
          Der Autor ist Ökologe und Naturschützer in Kenia. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Vorwort zur Neuauflage des Klassikers „Yosemite“ von John Muir. (Matthes & Seitz, 25 Euro). : Bild: privat

          Boden und Umwelt waren auf einmal einer Gesellschaft ausgesetzt, die das Verlangen und die Fähigkeit hatte, weit über ihre physiologischen Bedürfnisse und anfänglichen geographischen Grenzen hinaus zu konsumieren. Der Druck war da, und wer die Geschichte studiert, wird leicht erkennen, wie auf diese Weise Kolonialismus, Krieg und Umweltzerstörung befördert wurden und wie das in die Umweltkrise mündete, in der wir uns heute wiederfinden.

          Und wir tun so, als könnten wir die Instabilität, Unvorhersehbarkeit und gelegentliche Gewalt der atmosphärischen Bedingungen mit einem bewusst vagen Begriff erfassen und beschreiben: Klimawandel. „Klimawandel“ ist ein Ausdruck, der etwas Gegenwärtiges, Fließendes, Dringendes zu bezeichnen scheint. Wenn er im Zusammenhang mit der Beschreibung extremer Wetterlagen benutzt wird, ruft er Bilder eines Ereignisses auf, das gerade jetzt passiert, verursacht durch Aktionen von uns allen.

          Aus diesem Grund ist er ein so nützlicher Begriff, weil er das Krisennarrativ bedient. Wissenschaftler können Millionen Subventionen einwerben und ganze Karrieren darauf aufbauen, ohne etwas Konkretes zu tun. Politiker und politische Parteien können auf der Krisenwelle zur Macht kommen oder zu Machtpositionen in Regierungskoalitionen. Weltmächte können den Begriff leicht bei globalen Foren einsetzen als Vorwand, um die industriellen Ambitionen ihrer Rivalen zu beschränken. Am anderen Ende des ethischen Spektrums hat man den Begriff sogar als Entschuldigung von Erwachsenen benutzt, um eine Teenagerin an die Front der geopolitischen Schlachten zu stellen, vor denen wir Kinder schützen sollten.

          Die Ökonomie des „Grünwaschens“

          Eine der absurdesten Facetten jener Schimäre namens „Klimawandel“ ist das Aufkommen einer Monetarisierung der Umwelt und die Akzeptanz bizarrer Begriffe wie CO2-Ausgleich oder Emissionshandel. Wir haben gesehen, wie der Kapitalismus und seine Konsumgewohnheiten zur Ursache des Umweltdesasters geworden sind, in dem wir uns heute befinden. Für uns ist die Vorstellung, dass Kapitalismus, Maklergeschäfte und Profitstreben benutzt werden können, um den Schaden zu entschärfen, den sie über die Jahre angerichtet haben, der Gipfel der Heuchelei, eine schwere kognitive Dissonanz oder beides auf einmal im globalen Maßstab.

          Das Geld, das bei solchen Transaktionen den Besitzer wechselt, hat keinerlei Einfluss auf die Emissionen. Es besagt nur, dass diejenigen, die verschmutzen, dafür bezahlen. Die Kosten werden auf den Konsumenten abgewälzt, sodass die Verschmutzer keinen Verlust haben. Und da die meisten Emissionen bei der Produktion der wichtigen Konsumgüter entstehen, erweist sich das Ganze als ein simpler Erpressungsversuch, für den die Konsumenten bezahlen, um dann unter den Folgen in Gestalt von extremen Wetterlagen zu leiden.

          Die schädlichste Folge dieser Heuchelei ist der Irrtum der CO2-Speicherung durch Annexion und Kolonisierung von Boden und Meereslandschaft in den Tropen. Damit verbunden ist die beschleunigte Schaffung „geschützter Gebiete“, die von der fatal falschen Annahme getrieben ist, dass wohlhabende Menschen und Biodiversität die Wechselfälle einer destabilisierten Atmosphäre auf Inseln, die vom Rest der Welt abgetrennt sind, schon irgendwie überleben werden.

          Der schwammige Begriff „Klimawandel“ hat uns eine ganze Ökonomie des „Grünwaschens“ von immateriellem „CO2“ ermöglicht. Er hat wissenschaftliche Publikationen und politische Karrieren hervorgebracht, ganz zu schweigen von der unermüdlichen Suche nach „Alternativen“, die uns davon befreien sollen, unsere Konsumgewohnheiten zu verändern. Die Vorurteile, die ein integraler Teil der menschlichen Natur sind, haben ein komfortables Zuhause gefunden in jenem Gifthauch der „Klimawissenschaft”.

          Die Industrienationen zeigen mit dem Finger auf Viehbestände im globalen Süden – und ignorieren Autos, Industrie und Tankstellen in ihren eigenen Ländern. Sie deuten auf das Bevölkerungswachstum im globalen Süden und übersehen die Dichte und den CO2-Fußabdruck im Norden. Die Leute, die das betreiben, sind „Wissenschaftler“, ironischerweise bezahlt von den Konzernen, die den größten Schaden anrichten. Deshalb dürfen wir auch „Wissenschaft“ nicht zu dem unbefragten Kult werden lassen, der sie gerne sein möchte. Wir müssen sie sehr genau untersuchen, in derselben Weise, in der wir alles andere um uns herum untersuchen.

          Extreme Wetterlagen sind in ihrer Unvorhersehbarkeit und Macht eine Erinnerung: dass internationale Grenzen, geschützte Gebiete, internationale Konferenzen, verrückte finanzielle Pläne und „wissenschaftliche“ Forschung gar nichts bedeuten, wenn wir nicht die Emission von Treibhausgasen reduzieren. Wir müssen gemeinsam handeln, denn ausnahmsweise einmal stehen wir vor einer Herausforderung, die Reichtum, Rasse, Religion und alle anderen Abgrenzungen komplett ignoriert. Das Wetter, der große Gleichmacher.

          Aus dem Englischen von Peter Körte.

          Mordecai Ogada ist Ökologe und Naturschützer in Kenia. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Vorwort zur Neuauflage des Klassikers „Yosemite“ von John Muir. (Matthes & Seitz, 25 Euro)

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