Julija Timoschenko : Die ukrainische Löwin frisst sie alle
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Strebt ins höchste Staatsamt der Ukraine: Julija Timoschenko Bild: REUTERS
Frisch aus dem Gefängnis entlassen, alarmierte sie mit ihrem Auftritt auf dem Majdan die Demonstranten: Warum die ukrainischen Revolutionäre Julija Timoschenko fürchten müssen.
Die Einsicht, dass die Politik die Kunst ist, Schlimmstes zu verhüten, bekommt in der Ukraine einen besonders dramatischen Sinn. Das pittoreske Klischee, das Land sei und bleibe eine „Saporoger sitsch“, wie der wilde Kosakenstaat hieß, der sich im siebzehnten Jahrhundert im Steppengebiet zwischen dem Russischen und Osmanischen Reich bildete und der sich, je nach Opportunität, bald dem Sultan, bald dem Zaren, bald den Krimtataren unterstellte, wurde von der nachsowjetischen Geschichte der Ukraine auf schlagende Weise in Beton gegossen. Wobei die phänomenale politische Löwin Julija Timoschenko zweifellos die Goldmedaille als stärkste Kosakin errungen hat.
Den Ehrentitel, in der ukrainischen Politik der „einzige Mann“ zu sein, erwarb sich die Powerfrau aus Dnepropetrowsk schon 2004, als sie, Seite an Seite mit Amerikas Protegé Viktor Juschtschenko, als Siegerin aus der „orangen Revolution“ hervorging und in dem fast unmittelbar danach beginnenden Machtkampf mit Präsident Juschtschenko diesen auch durch Zweckbündnisse mit dessen Gegenspieler Janukowitsch immer wieder ausbootete. Janukowitsch war dann auch Zeuge, wie Regierungschefin Julija Timoschenko im Winter 2008/09 praktisch im Alleingang mit dem russischen Präsidenten Putin den ukrainisch-russischen Gaskrieg beilegte, während sie nebenher ein Hochhaus baute.
Hier steht die Wiege der russischen Kultur
Janukowitsch sperrte die Konkurrentin, kaum dass er sie in der Präsidentenwahl vor vier Jahren knapp besiegt hatte, nicht zuletzt deswegen weg, weil ihm ihrer beider Klassenunterschied sehr wohl bewusst war. Freilich, die Elite der Oligarchen ließ sich von dem ständigen Hin und Her niemals seekrank machen. Ebenso wenig wie das politische Establishment, das vor acht Jahren Janukowitschs Partei der Regionen zu Hunderttausenden verlassen hatte, vier Jahre später in ähnlichen Größenordnungen wieder die Mitgliedschaft erwarb, um die Partei jetzt abermals zu Hunderttausenden zu verlassen.
In der Ukraine steht die Wiege der russischen Kultur. Nach dem Sieg der Majdan-Opposition wurde indes Janukowitschs vernünftige Regelung, den Schulunterricht in überwiegend russischsprachigen Gegenden auch auf Russisch führen zu lassen, sofort zugunsten des Ukrainischen abgeschafft. Im Vergleich mit den Russen sind die Ukrainer lebensfroher und ihrer Region mehr verhaftet.
Als wäre nichts gewesen
Ein am Moskauer Konservatorium lehrender Kompositionsprofessor, der wie Timoschenko im russischsprachigen Dnepropetrowsk aufwuchs und sie als ungeheuer begabt und ehrgeizig in Erinnerung hat, spricht auch von einem Hang zur Kleinlichkeit der Landsleute, vor allem aber von ihrem phänomenalen Opportunismus. Die Kollegen vom Kiewer Komponistenverband, die unter dem westlichen Juschtschenko-Regime die Moskauer völlig ignorierten, gaben sich seit Janukowitschs Machtübernahme wieder wie alte Freunde, als wäre nichts gewesen, berichtet der Professor amüsiert.
Die Spitze der Partei der Regionen, Expräsident Janukowitsch und der Charkiwer Gouverneur Dobkin, die auf ihrem Parteikongress in Charkiw vorgestern gelobten, die Ostukraine bleibe stabil, flohen noch am selben Tag nach Russland. Wobei man nur Dobkin über die Grenze ließ. In beiden politisch schwer zähmbaren Ländern werden die Frauen zu Recht für ihre Schönheit gerühmt. Doch was die Ukrainerinnen vor den Russinnen auszeichnet, ist das Blühende, ihre naturhafte Vitalität. Was in manchen Familien dazu führt, dass der Mann sich nicht nach Hause traut.
Die Löwin als Übermutter
Für Russinnen ist ihr Aussehen oft Maske. Exemplarisch führt das die feministische Protestgruppe „Pussy Riot“ mit ihrer spukig bunten Inkognito-Aufmachung vor. Welch ein Kontrast zu den Aktivistinnen des ukrainischen Pendants „Femen“, die halb nackt die körperliche Konfrontation geradezu suchen und als Kreuzabsäger offen antichristlich auftreten. Wer je erlebt hat, wie eine von ihnen, bemalt und blumengeschmückt, wild kreischend weggetragen wurde, wird sie als Bild einer rebellierenden heidnischen Erdgottheit in Erinnerung behalten.
Auch Julija Timoschenko, die ukrainische Löwin, die sich mit einem vegetarischen Ährenkranz tarnt, gebärdet sich als Übermutter. Sie verließ ihren Käfig im Rollstuhl, aber ungebrochen, das nachgedunkelte Haupt mit dem Goldzopf bekrönt. Das Erste, was sie den Leuten auf der Straße zurief, war, sie werde sie alle beschützen. Ihr Auftritt auf dem Majdan, wo sie in schlechtem Ukrainisch sogleich Anspruch auf das höchste Staatsamt anmeldete, alarmierte die Demonstranten.
Klar, die Willenskraft und das Charisma dieser Frau, neben der die Oppositionsführer Arsen Jazenjuk und Vitali Klitschko sogleich verblassen, imponieren. Doch die Majdan-Kämpfer, die den Scharfschützen, Feuer und Polizeiprügeln standgehalten haben, müssen fürchten, dass Julija Timoschenko sie alle auffrisst, wie man hier das Ausgetrickstwerden umschreibt. Zumal sie während ihrer Haftzeit viel Geld verloren haben soll. Sie wird nicht ruhen, so sind ihre Freunde überzeugt, bevor sie sich entschädigt hat.