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Serie „Mensch Merkel“ : Und plötzlich war da ein Loch

  • -Aktualisiert am

Angela Merkel 2015. Bild: dpa

Klimpernde Wodkafläschchen im weißen Daunenmantel: Wie Angela Merkel, noch ehe sie Kanzlerin war, mit Horst Buchholz ihre Bühnenreife erlangte.

          2 Min.

          Man traf sich in einem Bierzelt in der Berliner Kulturbrauerei. Es war Spätsommer 2002. Angela Merkel hatte wohl schon den Plan, die erste Bundeskanzlerin der Deutschen zu werden und war jedenfalls auf Tingeltour durchs Land. In Berlin sollte es ein Podium zur neuen Kultur im neuen Berlin geben, mit vier, fünf Leuten auf der Bühne, darunter Horst Buchholz, die Legende, der Star. Er kam in einem knöchellangen, weißen Daunenmantel mit tiefen, aufgesetzten Taschen. In ihnen klimperten kleine Wodkaflaschen. Es waren viele. Er fing an, von Romy Schneider zu erzählen, vom Nachkriegsberlin, von den irren Gagen in Amerika.

          Es war kalt. Wir warteten. Es zog sich hin. Er war ein guter Erzähler. Wir tranken. Was sollten wir sonst tun? Wie hauchdünn diese Stars dann manchmal werden, dachte ich. So durchfleddert wie die Zeit, die sie groß gemacht hatte. Jemand kam ins Zelt und meinte, dass sich Angela Merkel verspäten würde.

          In der Mitte die Hauptperson

          Nach einer Weile wurden wir in den Veranstaltungssaal gelotst und platziert: links von Frau Merkel drei Berliner Kulturgrößen, in der Mitte die Hauptperson, rechts neben ihr Horst Buchholz, ganz außen ich, die noch immer mit der Frage beschäftigt war, was sie in der Runde eigentlich zu suchen hatte. Wir redeten. Worum es im Einzelnen ging, weiß ich nicht mehr. Aber an den Schlag erinnere ich mich, an ein akutes Geräusch. Und daran, dass zwischen Frau Merkel und mir auf einmal ein Loch war. Horst Buchholz war weg. Er war unter den schwarzen Stoff des Bühnentisches gerutscht. Die Zeit, die Lage, die Verhältnisse, die Fläschchen in den Seitentaschen oder was auch immer hatten ihn schier mitgerissen.

          Ines Geipel
          Ines Geipel : Bild: Jens Gyarmaty

          Die Lage war unübersichtlich. Doch nicht für alle. Die Frau, die Bundeskanzlerin werden wollte, redete, ohne groß Aufhebens zu machen, nach vorn weiter, während ihre Hand sehr selbstverständlich unter das Podium griff. In ihrem Gesicht jene unnachahmliche Mischung aus Erstaunen, Irritation und Stoizismus, die später als Merkel-Code Furore machen sollte.

          Der Arm der Rednerin verharrte unter dem Tisch. Es dauerte. Von der Seite aus betrachtet hatte ich den Eindruck, als würde der Arm irgendwann leicht zu zittern anfangen. Etwas zerrte an ihm. Zuerst war es der Kopf, dann der weiße Daunenmantel. Horst Buchholz schob sich unter leichtem Ächzen wieder an Deck. Während er noch auf dem Weg zu seinem Stuhl war, stieg er übergangslos ins Gespräch ein und wirkte sehr munter dabei. Als hätte es das Loch in der Szene nie gegeben. Das muss man draufhaben, dachte ich. Bühne ist Bühne, Star ist Star.

          In den vielen Jahren, in denen man Frau Merkel beim politischen Arbeiten zusehen konnte, fiel mir hie und da diese Szene wieder ein. Ein Moment vor dem Moment. Vielleicht eine Art öffentlicher Synchronisierungsvorgang. Der Star, der in den Riss der Zeit rutschte, um die später vielfach beschworene Merkel-Zähigkeit aufzurufen. Das nennt man wohl Bühnenreife.

          Ines Geipel ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Zuletzt veröffentlichte sie bei Klett-Cotta „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“.

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