Wir müssen über Cancel Culture reden
- -Aktualisiert am
Eine Idylle, eigentlich: Der Campus Nord der Humboldt-Universität, auf dem auch das Institut für Biologie steht. Bild: Martin Ibold
Cancel Culture? Oder einfach Wut, Verunsicherung und missglückte Kommunikation? Ein Besuch an der Humboldt-Universität nach dem Skandal um einen abgesagten Vortrag.
An einem warmen Julitag gibt es in Berlin kaum einen idyllischeren Ort als den baumbestandenen Campus Nord der Humboldt-Universität, doch Marie-Luise Vollbrecht macht nicht den Eindruck, dass ihr der Ort gerade Ruhe gibt. Die Beine zum Schneidersitz verschränkt sitzt sie auf einer Holzbank. Sie wirkt erschöpft und vorsichtig, auf manche Fragen will sie lieber nicht antworten. Sie ist für das Gespräch aus dem Backsteingebäude gekommen, in dem das Institut für Biologie untergebracht ist. Sie versucht, sich jetzt wieder auf ihre Doktorarbeit zu konzentrieren. Sie fände es gut, wenn nun alle aufeinander zugingen, sagt sie: „Ich glaube, man kann viel deeskalieren, wenn man miteinander redet und nicht gleich Hass schreit.“
Marie-Luise Vollbrecht ist über Nacht zur bekanntesten Biologie-Doktorandin des Landes geworden, wegen eines Vortrags, den sie nicht gehalten hat. Man kann ihn auf Youtube ansehen, es geht um Eizellen und Spermien, darum, wie das männliche und weibliche Geschlecht festgelegt wird, Seeanemonen und Regenwürmer kommen vor. Eigentlich wollte sie den Vortrag unter dem Titel „Geschlecht ist nicht Ge(schlecht), Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ am vergangenen Sonnabend bei der Langen Nacht der Wissenschaften halten, doch kurz vorher wurde er abgesagt. Die Studentenvertretung hatte eine Erklärung verbreitet, in der Marie-Luise Vollbrecht Transfeindlichkeit vorgeworfen und zu einer Demonstration aufgerufen wurde. Die Universitätsleitung entschied sich mit dem Hinweis auf Sicherheitsbedenken, den Vortrag nicht stattfinden zu lassen.
Jetzt 30 Tage kostenfrei testen 2,95 € / Woche
Jetzt kostenfrei Zugang abonnieren?