Zwei Appelle : Was in Hongkong passiert, sollte Europa beunruhigen
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Die gelbe Regenjacke als neues Symbol des Protestes: Demonstranten erinnern an den jungen Hongkonger, der in einem solchen Kleidungsstück in den Tod gesprungen ist. Bild: AFP
Die Demonstrationen und Aufrufe zum Massenstreik in Hongkong gehen weiter. Die Spaltung der Gesellschaft nimmt ihren Lauf. Zwei Autoren aus Hongkong formulieren ihre Forderungen an China und die EU.
Wir wissen nicht, was der Mann in der gelben Regenjacke dachte, als er hoch oben auf einem Baugerüst am Pacific Place stand, einem der nobelsten und größten Einkaufszentren Hongkongs – und wir werden es niemals erfahren. Es war der Nachmittag des 15. Juni. Gleich unter den Füßen des Mannes befanden sich die Läden von Cartier, Dior und Gucci. Wie die Worte auf dem Spruchband zeigten, das er an dem Gerüst angebracht hatte, forderte er fünf Dinge, die Welten von dem entfernt waren, was die Kunden im Innern des Gebäudes taten. Die Forderungen lauteten:
1. Keine Auslieferungen an China –Rücknahme des Auslieferungsgesetzes!
2. Macht deutlich, dass wir Hongkonger keine Randalierer sind!
3. Lasst die Studenten und verletzten Demonstranten frei!
4. Carrie Lam (Regierungschefin Hongkongs) muss zurücktreten.
5. Helft Hongkong!
Vier Stunden lang weigerte sich der Mann, mit Vermittlern zu sprechen. Plötzlich stieg er über das Geländer und beging Selbstmord. Mehrere Feuerwehrleute versuchten noch, ihn zurückzuhalten, aber er stieß sie beiseite und stürzte in die Tiefe.
Das ist Hongkong, nicht Tibet
Einen Tag nach dem Selbstmord des Mannes in der Regenjacke betrauerten etwa zwei Millionen Hongkonger seinen Tod und gingen auf die Straße. Wie sieht eine Demonstration mit zwei Millionen Teilnehmern aus? Es war ein riesiges Meer von Hongkongern. Ich ging auf eine kleine Hochstraße im Bezirk Admiralty, um mir die Demonstranten aus der Vogelperspektive anzuschauen, doch dann – ist das Wirklichkeit? – begann das Meer von Hongkongern zu tosen: „Wir schützen Hongkong! Wir schützen Hongkong!“
Als die Demonstranten sahen, dass andere Hongkonger ihnen von der Straße zuwinkten, antworteten sie, indem sie das Licht ihrer Handys einschalteten – die Lichter glichen den Kerzen, wie die Hongkonger sie alljährlich für die 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking Getöteten anzünden.
Sie können sich nicht vorstellen, wie friedlich und kooperativ diese zornigen Demonstranten waren – sie teilten sich immer wieder wie das Rote Meer, um einem Rettungswagen Platz zu machen. Schauen Sie es sich im Internet an! Wie könnten Hongkonger Randalierer sein?
Mehr Aktivisten politisch verfolgt
Die Handy-Kerzenflammen und das Rote Meer brachten uns alle zum Weinen – erkennbar schluchzend oder im Herzen. Ich überdenke meine Absicht, auszuwandern. Ich wollte Hongkong verlassen, weil die chinafreundliche Hongkonger Regierung immer weniger Achtung vor der Meinungsfreiheit der Wissenschaftler zeigt. Jetzt muss ich neu darüber nachdenken.
Ist es eine Überraschung, dass die Zahl der Demonstranten im Juni 2019 die Zahl der Teilnehmer an der Hongkonger Regenschirmbewegung von 2014 überstieg? Überhaupt nicht. Vor fünf Jahren waren die Hongkonger unterschiedlicher Auffassung, wie Demokratie sich erreichen ließ. Damals gab es tatsächlich verschiedene Wahlmöglichkeiten. Dank des geplanten Auslieferungsgesetzes sind viele Hongkonger sich heute einer schlichten Tatsache bewusst: Sie werden Freiheit und Würde nicht verlieren. Denn wie zahllose Demonstranten immer wieder riefen: „Hongkong ist nicht China!“