Hannah Arendt im DHM : Bewegend, verstörend, kantig
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Hannah Arendt (1906-1975) Bild: Picture-Alliance
Mit allen Sinnen erlebbar: In Berlin eröffnet das Deutsche Historische Museum eine große Ausstellung über Hannah Arendt.
Nach mehr als sechs Wochen Verzögerung darf das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin wieder öffnen und zeigt seine lang angekündigte große Ausstellung über Hannah Arendt. Ausschnitte waren vorab schon digital zu sehen, und über die Anlage und inhaltliche Ausrichtung ließ sich auch dank des facettenreichen Begleitbandes bereits diskutieren – aber keine noch so gute digitale und schriftliche Vermittlung ersetzt den Gang durch die Ausstellung, die nun, vom obligatorischen Mundschutz abgesehen, mit allen Sinnen zu erleben ist.
Die Ausstellungsfläche ist verwinkelt und wirkt zunächst unverbunden, weil in jedem Winkel ein anderes Thema präsentiert wird – etwa Zionismus, Migration, Antisemitismus. Doch je weiter man in die von Monika Boll kuratierten Räume vordringt, desto klarer wird das Bild von Hannah Arendt als ebenso umstrittene wie vielfach gerühmte und bewunderte politische Denkerin des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die Kombination von Video, Audio und analogen Formaten ist ausgesprochen gelungen. In einzelnen Sitzecken der Ausstellung gibt es Hörcollagen aus Arendts Texten, einige Wände zeigen großformatige Videoausschnitte aus dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus von 1964. In Vitrinen sind historische Dokumente wie die Protokolle aus dem Eichmann-Prozess, Hannah Arendts Wiedergutmachungsantrag, Briefe oder Gegenstände aus ihrem Privatbesitz zu sehen. Besonders beeindruckend ist die Präsentation der Eichmann-Kontroverse, die hinter dem tief verstörenden Modell des Krematoriums II Auschwitz-Birkenau des polnischen Bildhauers Mieczyslaw Stobierski zu sehen ist. Ton- und Bildaufnahmen aus dem Prozess führen unmittelbar ins Geschehen und wecken großes Interesse für die heftigen Debatten über Arendts Prozessanalyse.
Eine Ehrung, ohne Kanten zu glätten
Ohne die Verstörung je ganz aufzuheben, hat der Aufgang zur oberen Etage der Ausstellung dennoch etwas Beruhigendes. Transparente am Treppengeländer dokumentieren das Kriegsende und führen in ein neues Kapitel der Geschichte, das von Arendts Zeit in den Vereinigten Staaten, ihren Besuchen in Deutschland und dem umkämpften Thema der westdeutschen Vergangenheitsaufarbeitung handelt.
Hin und wieder ist das Bemühen um Anschlussfähigkeit zur Gegenwart etwas gewollt. So hätte Arendt mit der überflüssigen Kategorisierung als „weiblich-intellektuell“ gewiss nicht viel anfangen können. Noch weniger überzeugt die postkoloniale Aneignung ihres Werks. Ja, sie hat über Imperialismus geschrieben und bewegt sich damit für heutige Leser sicher nicht auf der Höhe der Zeit. Man muss aber auch nicht bei jedem Thema mit Entlarvungsintention kolonialistisches Erbe aufspüren.
Insgesamt aber ist diese von Museumsdirektor und Stiftungspräsident Raphael Gross präsentierte Schau ein großer Gewinn für die Stadt. Sie dokumentiert in bewegender Weise deutsche Zeitgeschichte, ehrt eine große Denkerin, ohne ihre Kanten zu glätten, und macht unbändige Lust, ihre Bücher und Aufsätze neu oder wieder zu lesen. Eine Empfehlung für jeden – und ein Pflichtbesuch für alle Schulklassen ab der Mittelstufe.