Gegen die Fusion der SWR-Orchester : Ein offener Brief von hundertsechzig Dirigenten
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SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Pierre Boulez Bild: SWR/Peter A. Schmidt
„Künstlerisch unsinnig, ökonomisch mindestens fragwürdig, ein kulturpolitischer Offenbarungseid“: In einem offenen Brief an den SWR-Intendanten protestieren 160 Dirigenten gegen die Fusion der Orchester.
Sehr geehrter Herr Boudgoust!
Die von Ihnen gegen jeden guten Rat von musikalisch kompetenter Seite sowie gegen alle Widerstände forcierte und anlässlich einer SWR-Rundfunkratssitzung am 28. September 2012 schließlich auch erwirkte Entscheidung für eine Fusion des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (SO) mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (RSO) ist künstlerisch unsinnig, ökonomisch mindestens fragwürdig und darüber hinaus ein kulturpolitischer Offenbarungseid.
Die Marginalisierung von Kultur mag im Trend liegen, ist aber gewiss ganz und gar unvereinbar mit dem Bildungsauftrag, der die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten qua Staatsvertrag in dessen seit dem 01. Januar 2013 gültiger Fassung durch § 11 Abs. 1 dazu verpflichtet, „Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten“ – also nicht ‚auch‘ oder ‚unter anderem‘, sondern eben ‚hauptsächlich‘, ‚vor allem‘ und ‚in erster Linie‘, um nur drei Synonyme des Wortes „insbesondere“ zu nennen, wie sie sich im Duden finden.
Jeder Konzertabend aufs Neue ein Beweis
Durch den Kulturabbau, welchen die geplante Fusion seiner beiden noch verbliebenen Sinfonieorchester bedeutet, sägt der SWR als gebührenfinanzierter öffentlich-rechtlicher Sender am Ast, auf dem er sitzt. Die Produktion von Soap-Operas, Talkshows und Kochsendungen sowie die Übertragung von sportlichen Großereignissen, die ohnehin den Gesetzen des Marktes unterworfen ist, da Ausstrahlungsrechte grundsätzlich dem Meistbietenden zugeschlagen werden, dürften schon bald nicht mehr ausreichen, um das Programm des SWR von demjenigen der privaten Rundfunk- und Fernsehanbieter zu unterscheiden. Dies aber ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Finanzierung des SWR aus der von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes gezahlten Haushaltsabgabe. Der SWR muss sich folglich seine zwei Orchester und sein Vokalensemble, die Big Band und das Experimentalstudio sowie die Beteiligung an der Deutschen Radio Philharmonie leisten, um auch weiterhin sein Unterhaltungsprogramm bezahlen zu können – und nicht etwa umgekehrt.
Ein mit 200 Musikern, 98 davon aus dem SO und 102 aus dem RSO, grotesk überdimensioniertes Fusionsorchester ohne individuelles Profil, dessen Zusammenwachsen Jahre und Jahrzehnte beanspruchen wird, taugt jedenfalls nicht als Ausweis des geforderten kulturellen Engagements. Hier wird Kunst zum Feigenblatt reduziert für ein Senderprogramm, das immer mehr auf Quote schielt, statt seinen gesetzlich fixierten Bildungsauftrag zu erfüllen. Dabei waren es doch gerade die rege Konzerttätigkeit – nicht nur in den Landeshauptstädten, sondern im gesamten Sendegebiet – und eine lebendige Konzertkultur mit dem Neuen gegenüber aufgeschlossener Programmatik, durch die das SO fast 70 Jahre lang an jedem Konzertabend aufs Neue die Existenzberechtigung eines gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems unter Beweis gestellt hat. Hinzu kommt eine intensive, exemplarische Jugendarbeit, mit der das Orchester seit Jahren erfolgreich die Neugierde eines jungen Publikums auf klassische Musik, die Lust am Live-Erlebnis eines Konzertbesuchs und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Abenteuer Avantgarde weckt.
Nur Vielfalt schützt vor Einfalt
Die Umsetzung der Fusion mag Ihnen auf dem Papier, als reiner Verwaltungsakt betrachtet, durchführbar und mithin möglich erscheinen, unter musikalisch-künstlerischen Gesichtspunkten vertretbar aber ist sie nicht. Kein Dirigent – und damit ausdrücklich auch keiner der Unterzeichnenden – wird in der Lage sein, auf absehbare Zeit aus den zwangsfusionierten Musikern einen Klangkörper zu formen, dessen Rang mit dem der beiden mutwillig zerstörten, traditionsreichen Sinfonieorchester auch nur im Entferntesten konkurrieren könnte. Dies umso mehr, als die Aussicht, in Zukunft nicht mehr in einem erstklassigen, international renommierten Orchester zu spielen, einen Exodus insbesondere der hochtalentierten jüngeren, noch weniger ortsgebundenen Musiker auslösen wird, was wiederum eine dramatische Überalterung des neuen Orchesters nach sich zieht. Die Rahmenbedingungen für musikalische Spitzenleistungen sehen anders aus.
Mit der Entscheidung für Stuttgart als Standort des Fusionsorchesters huldigen Sie zudem einem Zentralismus, dessen verhängnisvolle Auswirkungen auf die Musikkultur in zahlreichen europäischen Staaten zu besichtigen sind, und welcher der in Deutschland historisch gewachsenen Situation einer flächendeckend regionalen Verwurzelung von Kultureinrichtungen diametral entgegensteht. Damit nicht genug, kommt die Aufgabe der grenznahen Standorte Freiburg und Baden-Baden auch der Absage an eine über beinahe sieben Jahrzehnte gewachsene Trinationalität gleich, die das SO auf kultureller Ebene geradezu verkörpert und für die es mit seinen regelmäßigen Auftritten in Frankreich und der Schweiz Pionierarbeit geleistet hat, lange bevor Politiker den Begriff als Werbeslogan für die Region des Dreiländerecks entdeckten.
Die Zerschlagung des SO würde aber nicht nur einen nie wiedergutzumachenden Verlust für die Orchesterkultur dieses Landes bedeuten und den SWR eines wichtigen musikalischen Botschafters in den Nachbarstaaten, ja, in ganz Europa berauben, sondern im Bereich der Orchestermusik auch die Zukunft der Neuen Musik insgesamt bedrohen. Denn auf der Welt dürfte es kein zweites Orchester geben, dessen Musiker sich so vorbehaltlos und selbstverständlich, auf so hohem spieltechnischen Niveau und mit ebenso großer Neugierde wie Leidenschaft für die Musik der Gegenwart einsetzen. Das SO konnte deshalb seit jeher Partituren gerecht werden, die für andere Orchester schlicht unspielbar wären und setzt bis heute immer wieder neue Maßstäbe hinsichtlich der Realisierbarkeit experimenteller Musik.
In den letzten 20 Jahren sind in Deutschland insgesamt 36 Orchester aufgelöst worden und auf diese Weise unwiederbringlich von der Landkarte verschwunden. Dem allgemeinen Kulturkahlschlag sind damit Jahr für Jahr etwa zwei Klangkörper zum Opfer gefallen. Mit einer Rücknahme des unseligen Fusionsbeschlusses und dem Erhalt des SO als eines Spitzenorchesters von internationaler Geltung können Sie Ihren Beitrag leisten zur Bewahrung der weltweit einzigartigen deutschen Orchesterlandschaft. Sie sollte es Ihnen und uns allen wert sein, denn nur Vielfalt schützt vor Einfalt.
Hochachtungsvoll,
David Afkham
Guido Ajmone-Marsan
Gerd Albrecht
Marc Albrecht
Alain Altinoglu
Stefan Asbury
Moshe Atzmon
Roland Bader
Hermann Bäumer
Serge Baudo
George Benjamin
Hans Michael Beuerle
Herbert Blomstedt
Pieter-Jelle de Boer
Fabrice Bollon
Ivor Bolton
Pierre Boulez
Martyn Brabbins
Alexander Briger
Sylvain Cambreling
Carmen Maria Cârneci
Robert Casteels
Friedrich Cerha
Gabriel Chmura
Myung-Whun Chung
David Robert Coleman
Denis Comtet
Teodor Currentzis
Joshard Daus
Thomas Dausgaard
Dennis Russell Davies
Sir Peter Maxwell Davies
Jacques Delacôte
Andreas Delfs
Kasper de Roo
Jean Deroyer
Christoph von Dohnányi
Klaus Donath
Charles Dutoit
Christoph Eberle
Sian Edwards
Titus Engel
Roger Epple
Peter Eötvös
Asher Fisch
Ádám Fischer
Thierry Fischer
Tilo Fuchs
Hortense von Gelmini
Michael Gielen
Johannes Goritzki
Clytus Gottwald
Konstantia Gourzi
Eivind Gullberg Jensen
Leopold Hager
Friedrich Haider
Michael Halász
Johannes Harneit
Nikolaus Harnoncourt
Olaf Henzold
Pablo Heras-Casado
Peter Hirsch
Heinz Holliger
Rupert Huber
Eliahu Inbal
Pietari Inkinen
Neeme Järvi
Marek Janowski
Johannes Kalitzke
Kirill Karabits
Peter Keuschnig
Bernhard Klee
Roland Kluttig
Bernhard Kontarsky
Ton Koopman
Kazimierz Kord
Gérard Korsten
Dieter Kurz
Franz Lang
Yoel Levi
Alexander Liebreich
Wolfgang Lischke
Brad Lubman
Michael Luig
Susanna Mälkki
Othmar M. F. Mága
Diego Masson
Mark Mast
Farhad Mechkat
Cornelius Meister
Jacques Mercier
Ingo Metzmacher
Alicja Mounk
Rainer Mühlbach
Christoph-Mathias Mueller
Uwe Mund
Kent Nagano
Günter Neuhold
Yannick Nézet-Séguin
Ulrich Nicolai
Grzegorz Rafael Nowak
Arnold Östman
Gabor Ötvös
Franck Ollu
Kazushi Ōno
Krzysztof Penderecki
Alejo Pérez
Robert HP Platz
Emilio Pomàrico
Pierre-Dominique Ponnelle
Christoph Poppen
David Porcelijn
Christof Prick
Hans-Martin Rabenstein
Manfred Reichert
Burkhard Rempe
Peter Richter de Rangenier
Helmuth Rilling
Pascal Rophé
Peter Rundel
Donald Runnicles
Pablo Rus Broseta
Peter Ruzicka
Oswald Sallaberger
Thomas Sanderling
Nello Santi
Jukka-Pekka Saraste
Heinrich Schiff
Urs Schneider
Hanns-Martin Schneidt
Eberhard Schoener
Michael Schønwandt
Holger Schröter-Seebeck
Uri Segal
Leif Segerstam
José Serebrier
Leo Siberski
Nicolas Simon
Stanisław Skrowaczewski
Sir William Southgate
Christopher Sprenger
Alois Springer
Jonathan Stockhammer
Yoav Talmi
Arturo Tamayo
Michael Tilson Thomas
Francis Travis
Wolfgang Trommer
Mario Venzago
Ilan Volkov
Edo de Waart
Hans Wallat
Volker Wangenheim
Ralf Weikert
Günther Wich
Gerhard Wimberger
Jürg Wyttenbach
Lothar Zagrosek
Hans Zender
David Zinman