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Gartenschule : Gartenarbeit schützt vor Einsamkeit

  • -Aktualisiert am

Früh schult sich der grüne Daumen: Die sechsjährige Hanna pflanzt im Garten der Kindertagesstätte „Spatzenhaus" Bild: ZB

Die Einrichtung von Schul- und Kitagärten boomt gerade. Aber dass Schülerinnen und Schüler beim Gärtnern etwas fürs Leben lernen, ist keine neue Erfindung. Ein Rückblick ins Dickicht der unterschiedlichen Traditionen der Gartenpädagogik.

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          Nicht nur auf Kinderkrippen und Polikliniken war man in der DDR stolz, sondern auch auf die Schulgärten. Um die sozialistische Persönlichkeit zu erziehen, war nach sowjetischem Vorbild die Gartenarbeit zum Pflichtfach erhoben worden. Naturwissenschaftliches Wissen und konkrete Praxis sollten zu­sammenfinden. Auf Geheiß des Ministeriums für Volksbildung entstanden Gärten an den Polytechnischen Oberschulen, um im Rübenbeet, wie es in einem Anfang der 1960er-Jahre verfassten pädagogischen Pamphlet hieß, „die Schüler unmittelbar in den gesellschaftlichen Umwälzungsprozess“ einzubeziehen und „an der revolutionären Tätigkeit der Werktätigen“ zu beteiligen. Einzelgärten waren verboten, die Pflege der Parzellen oblag dem Schülerkollektiv, das den Ertrag verwenden durfte, um die notorisch angespannte Versorgungslage zu verbessern und die Klassenkasse zu füllen. Nach dem Ende des Arbeiter- und Bauernstaates war es jedoch mit der roten Gartenvision vorbei. Die Wende überlebte der Schulgarten als Pflichtfach nur in Thüringen.

          Der metaphorische Vergleich von Garten und Schule, von Gärtner und Lehrer, von Setzling und Schüler ist indes kein Vorrecht der Kommunisten, sondern findet sich in allen Kulturen und zu allen Zeiten. In der europäischen Tradition wurden Erziehungs- und Gartenarbeit immer wieder in eins gesetzt: von der platonischen Philosophie der Antike über die christliche Theologie des Mittelalters bis zur gottgefälligen Pädagogik des Pietismus und der emanzipatorischen Philanthropie der Aufklärung. Der Schulgarten als Lernmittel ist hingegen eine österreichische Erfindung und die habsburgische Reaktion auf das Trauma des Ausgleiches mit Ungarn 1867, der das Kaisertum Österreich in eine Realunion zweier Staaten verwandelte.

          Weinbau und Obstspalieren

          Als zwei Jahre später in der Do­naumonarchie ein Schulgesetz in Kraft trat, das nur in Österreich, aber nicht in Ungarn galt, musste auch der Volksschulgarten in Stadt und Land zur „Wiedergeburt des Vaterlandes“ beitragen und „eine neue Zeit heraufführen“. Schülerinnen und Schüler sollten sich körperlich und geistig ertüchtigen; doch die Geschlechtersegregation durfte nicht aufgehoben werden. Während für „Mädchen“ Blumen und Gemüse „die Hauptrolle“ spielten, sollten „Knaben“ sich dem Weinbau und den Obstspalieren widmen. Von Österreich aus verbreitete sich die Idee rasch im Deutschen Kaiserreich, wo die Pflege der schulischen Gärten zur national-patriotischen Pflicht wurde.

          Salbei im Schulgarten der Frankfurter Konrad-Haenisch-Schule
          Salbei im Schulgarten der Frankfurter Konrad-Haenisch-Schule : Bild: Lukas Kreibig

          Der Schulgarten war und blieb ein Lernort, der den Einzelnen in theoretischer und praktischer Hinsicht schulte, zugleich aber in eine größere Gruppe integrierte, die sich erst durch die ge­meinsame Erfahrung der Arbeit in der Natur konstituierte. Weniger die Regeln der Botanik als die Weltanschauung seiner Verfechter bestimmten sein Aussehen. Er war folglich ideologisch anfällig und mit je spezifischen Reformanliegen in der schulischen Bildung verbunden. Seine Konjunkturen reflektieren die politische Konditionierung der Pädagogik.

          In der Ökopaxbewegung

          Im Ersten Weltkrieg leisteten die Schüler an der Heimatfront ihren körperlichen Beitrag zum Kampf für das Vaterland. Reformpädagogische Ansätze forderten in der Weimarer Republik ein ganzheitliches Lernen in „Arbeitsschulgärten“, deren Theoretiker den negativen Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung entgegenzuwirken suchten, gleichzeitig aber völkische und kulturpessimistische Positionen rezipierten. Die nationalsozialistische Ideologie der Volksbildung missbrauchte den Schulgarten schließlich für ihre inhumane Vererbungs- und Rassenlehre, verlor allerdings – wie die Strömungen zuvor – das Postulat der Ertragssteigerung nicht aus den Augen. In der Bundesrepublik lagen die Schulgärten zunächst brach, bis sie die Ökopaxbewegung in den 1970er-Jahren als Biotope wiederentdeckte, um im Grünen den Frieden zu bewahren und die Umwelt zu schützen.

          Von hier aus fand das Thema Eingang in die politische Agenda verschiedener Gruppen und Parteien, die den Schulgarten als Heterotopie feierten, in denen die Natur erlebt und die Gemeinschaft gefeiert wird. Heute garantiert die Umweltbildung Biodiversität und integriert Menschen unterschiedlicher Herkunft; die Gartentherapie schützt zugleich vor der Isolation des Individuums im digitalen Zeitalter. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten e.V., deren Botschafter der frühere Um­weltminister Klaus Töpfer ist, hat auf ihrer Jahrestagung in Cottbus 2015 einen Appell lanciert, der die Bedeutung der Schul-(und KITA-)gärten hervorhebt und zukunftweisend eine „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ einfordert. Inzwischen gibt es auch einen jährlichen Tag des Schulgartens. In diesem Jahr findet er am 14. Juni statt.

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