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Debatten zum Ukrainekrieg : Putin darf nicht siegen

Bildstark: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj singt mit Grenzsoldaten die Nationalhymne. Bild: dpa

Der Mitmachkrieg macht Pazifisten munter: Bei den Frankfurter Römerberggesprächen gelobt man Unterstützung für die Ukraine und erörtert mögliche Lösungen des Konflikts.

          3 Min.

          Die neue Unordnung, in die Russlands Ukrainekrieg die Welt gestürzt hat, be­stimmte die diesjährigen Römerberggespräche im Frankfurter Schauspiel, die unter dem Motto „Nie wieder Frieden?“ auszuloten versuchten, inwieweit die westlichen offenen Gesellschaften der alle Regeln brechenden Aggression Einhalt gebieten können, welche Lektionen zu lernen sind und welche Lösungen denkbar. Die Diagnosen der anwesenden und zugeschalteten Wissenschaftler und Au­toren klangen erwartbar dramatisch.

          Kerstin Holm
          Redakteurin im Feuilleton.

          Der Historiker Karl Schlögel nannte Putin einen kleinen, niederträchtigen Diktator und Massenmörder, der ein neoimperiales, neutotalitäres staatskapitalistisch-kleptokratisches System errichtet ha­be, das die Thinktanks überfordere. Ihm sekundierte der unlängst aus Moskau ausgereiste Schriftsteller Viktor Jerofejew, der Putins Psychogramm als gelegenheitskriminellen Hinterhofkämpfer zeichnete, der auch als Geheimdienstler jegliche Moral verachte und dem es allein darauf ankomme, Gegner zu besiegen. Jerofejew merkte jedoch auch an, der postheroische Charakter der westeuropäischen Gesellschaften habe Putin von ihrer Schwäche überzeugt. Der Gegensatz zwischen vielen Europäern und den Ukrainern bestehe darin, so der Russe, dass letztere bereit seien, für die europäischen Werte zu sterben.

          Der Narzisst zerstört das Objekt seiner Begierde

          Aus dem westukrainischen Lemberg zugeschaltet war der Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochasko, der in elegantem, akzentfreiem Deutsch berichtete, Lemberg sei mit rund 300 000 Binnenflüchtlingen die derzeit wohl größte Flüchtlingsstadt der Welt, wo Kriegsverletzungen und Traumata behandelt würden. Prochasko erklärte, warum dieser Krieg unausweichlich gewesen sei. Putin führe ihn einerseits, um von inneren Problemen, etwa der Korruption, abzulenken. Und als maligner Narzisst, der sich die „Endlösung“ der Ukrainefrage zur Le­bensaufgabe gemacht habe, zerstöre er das Objekt seiner Begierde, wenn er es nicht erobern könne. Es handle sich aber auch um einen ideologisch begründeten Krieg eines autoritären Herrschers gegen die Demokratie und einen Test, welches System zukunftsfähiger sei. In dem Schuldkomplex, durch den viele Deutsche sich infolge des Zweiten Weltkrieges mit Russland verbunden fühlen, stecke, glaubt Prochasko, vor allem Angst. Der weltläufige Autor verlangt obendrein von seinen russischen Bekannten, die – im Gegensatz zu Freunden aus anderen Ländern – es versäumt hätten, ihm gegenüber Sorge und Solidarität zum Ausdruck zu bringen, mehr ziviles Verantwortungsbewusstsein. Auch Putin-Gegner müssten begreifen, so Prochasko, der einen zuvor von Schlögel geäußerten Gedanken variierte, dass dieser Krieg auch die russische Kultur kontaminiere und den Blick auf sie nachhaltig verändern werde.

          Wie die erfolgreiche Bildpropaganda der Ukraine dazu beitrug, Zuspruch für finanzielle und militärische Unterstützung in eigentlich pazifistischen Gesellschaften zu mobilisieren, erläuterte die Kunstwissenschaftlerin Charlotte Klonk. Zerstörungen und Gräueltaten der russischen Armee würden in Echtzeit verbreitet, und die russische Seite habe dem nur Mediensperrungen und die Behauptung entgegenzuhalten, es handle sich um Fakes. Zum „Mitmachkrieg“ werde der Konflikt zudem durch den Bot der ukrainischen Staatsanwaltschaft, bei dem man Besitztümer russischer Oligarchen melden kann. Da Russlands Oligarchen längst keinen Einfluss mehr auf Putin haben, dienen Konfiskationen von deren Vermögen freilich vor allem der populistischen Legitimierung der Sanktionen, erklärte der aus New York zugeschaltete Wirtschaftswissenschaftler Adam Tooze.

          Doch für eine Lösung des Konflikts sehe er nur schlechte Optionen, so Tooze. der es bezeichnend findet, dass die Vereinigten Staaten für die Ukraine das Lend-Lease-Programm aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs reanimiert haben. Amerika tue alles unterhalb der Schwelle des Kriegseintritts – Waffen liefern, ausbilden, logistisch unterstützen –, nur dass andere Soldaten kämpften und stürben. Für das erklärte Ziel, die Niederlage Russlands, also einer Atommacht, gebe es indes keinen Präzedenzfall. Der Brite glaubt, dass es irgendwann zu einem „schmutzigen Deal“ kommen wird.

          Wie und wann das sein wird, das hänge von dem imponierenden Kampfeswillen der Ukrainer ab, die ihre Souveränität gegen die Atommacht Russland verteidigten und die von allen unterschätzt würden und von dem Altpazifisten Habermas offenbar weiter unterschätzt würden, meinte Tooze. Die Politologin Nicole Deitelhoff formulierte daher vorsichtiger: Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen, und die Ukraine dürfe ihn nicht verlieren.

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