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Aufnahme von Flüchtlingen : Warum macht unser Mitgefühl schlapp?

  • -Aktualisiert am

Vor verschlossenen Türen: Tröglitz in Sachsen-Anhalt wurde zum Schauplatz eines Brandanschlags. Bild: Klein, Nora

Flüchtlinge und Asylbewerber gelten in Deutschland als Problem statt als Chance. Das liegt an unserer Gastfreundschaft: Wir haben keine.

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          Im Mittelmeer sind bereits Tausende ertrunken, die Glücklicheren stranden lebend an Inseln in Griechenland oder Italien. Soeben starben siebzig Personen in einem Lkw in Österreich, eingepfercht wie Vieh. In Ostdeutschland brennen die Unterkünfte schon, bevor sie bezogen werden. Die Welt zu Gast bei Freunden? Das war 2006, es war WM. Und es war nur ein Spiel. Jetzt ist es ernst. Bei jedem einsamen Kätzchen auf dem Baum zerfließen uns die Herzen vor Mitleid in den sozialen Netzwerken. Die Flüchtlingskatastrophe vor unserer Tür lässt uns vergleichsweise kalt.

          Geht es um Einzelschicksale, sind wir oft bereit zu helfen, kennen keine Grenzen, überschütten medial gehypte Opfer von Beleidigungen in Bussen oder U-Bahnen mit Crowdfunding-Geld. Geht es hingegen um Tausende Menschen, macht unser Mitgefühl plötzlich schlapp. Die Herzen versteinern sich. Wir sind wie gelähmt. Oder haben wir uns nur schon digital verausgabt, mit Likes und Retweets von Wohltaten anderer? Haben wir unsere Schuldigkeit damit getan?

          Gemütlichkeit statt Gastfreundschaft

          Vor kurzem zeigte die ARD die aufschlussreiche Fernsehdokumentation „Das Golddorf“. Es ging darin um das Dorf Bergen im Chiemgau, fünftausend Einwohner, das Flüchtlinge aufgenommen hatte, sie jedoch kritisch beäugte. Ich habe den Großteil meines Lebens dort verbracht. Und blieb immer fremd. In der Dokumentation kam ein Mann zu Wort, der es schon seltsam findet, wenn so ein „schwarzer Kopf beim Gasthof Hochfelln herausschaue“. Seltsam? Spätestens bei der Weihnachtsmesse um 17 Uhr in der Kirche St.Ägidius wird er es eher seltsam finden, dass niemand einem aramäischen Pärchen, sie hochschwanger, Vaterschaft ungewiss, Unterschlupf bieten will, so dass die Frau in einem Stall niederkommen muss. Moral und Mitgefühl sind eben auch immer eine Frage des Kontextes; manchmal dringen sie durch, manchmal nicht.

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          Auch wenn der Film die bayerische Unbeholfenheit teils überzeichnet, wage ich zu behaupten: Wir haben in Deutschland kein Konzept von Gastfreundschaft. Wir haben „Gemütlichkeit“. Gemütlichkeit kann mit Veränderungen nicht viel anfangen, sie gedeiht im Mikroklima des bereits Bekannten. Jede Veränderung, alles Neue bedroht uns irgendwie. Das fängt an mit Clubs, in welchen zu viele Hipster tanzen, und endet mit Migranten, die ja anders aussehen. Wo zu viele „andere“ sind, befällt uns ein Unwohlsein. Im Urlaub in Italien oder Kroatien treffen wir durch Zufall unsere Nachbarn aus dem Dorf wieder und finden es offiziell „furchtbar“, insgeheim aber vielleicht doch ganz toll.

          Dieses Land verändert sich gerade, vielleicht massiv. Wir erleben derzeit die größten Migrationsströme seit dem Krieg auf dem Balkan. Darin liegt auch eine große Chance. Ich habe nie verstanden, warum sich Deutschland als eine der reichsten Industrienationen nicht in die erste Reihe stellt, sich die Hände reibt und sagt: Hurra, da kommen sie, die Facharbeiter, Ärzte, Ingenieure! Bei uns sind das erst einmal nur Hausmeister oder Straßenkehrer. Es ist unser Überheblichkeitsdünkel, der uns hemmt, die Chancen zu sehen.

          Für uns zählt nur deutsche Wertarbeit, alles ist nach unseren Maßstäben genormt und zertifiziert; alle anderen können nichts, sind für uns Menschen zweiter Klasse. Ich habe bisher bessere Erfahrungen mit Automechanikern aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien oder Frankreich gemacht. Auf mein Auto, das seit einem Monat in einer deutschen Werkstatt steht, warte ich immer noch. Wo wären wir ohne die Einwanderer aus den sechziger, siebziger Jahren? Allein schon kulinarisch oder kulturell? Ich bin froh, dass ich bei Einladungen von Freunden mediterrane Köstlichkeiten genießen darf und nicht im Mett-Igel herumstochern muss. Letztes Jahr gewann Saša Stanišić den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Buch „Vor dem Fest“ – ein Flüchtlingskind aus Bosnien schrieb besser als alle Deutschen.

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          Fremde auf einen Tee einladen

          Gastfreundschaft ist für uns das, was wir von anderen erwarten. Wer als Deutscher zum Griechen essen geht oder zum Türken oder Libanesen, freut sich über den kostenlosen Tee oder den Ouzo „aufs Haus“. Zwar gibt es auch bei uns Menschen, die großzügig sind und helfen. Aber eine Willkommenskultur haben wir nicht. Wer durch andere Länder gereist ist, erzählt oft begeistert, dass fremde Menschen in Albanien oder Georgien, die wenig haben, einen wie selbstverständlich beherbergen und verköstigen. Wann haben wir zuletzt einen Fremden auf einen Tee zu uns nach Hause eingeladen? Uns für ihn interessiert? Wie polyglott und touristisch beschlagen müssen wir eigentlich noch werden, damit das mal abfärbt? Im Libanon sind mehr als eine Million Syrer untergebracht; das selbst krisengeschüttelte Land hat vier Millionen Einwohner und ist so klein, dass man in zwei Stunden von einer Grenze zur anderen fahren kann. Und bei uns soll kein Platz sein?

          Die Begegnung mit Geflohenen suchen statt meiden: Bei der Karlsruher Initiative „Bikes without borders“ ist das möglich.
          Die Begegnung mit Geflohenen suchen statt meiden: Bei der Karlsruher Initiative „Bikes without borders“ ist das möglich. : Bild: dpa

          Was ist es, das uns hemmt, die Herzen zu öffnen? Es ist das vermeintlich Feindliche im Fremden. Friedrich Nietzsche sagte, der Sinn der Gastfreundschaft liege darin, das Feindliche im Fremden zu lähmen. Freuen wir uns über Menschen, die jetzt zu uns kommen und uns beibringen, wie das geht. Das Rezept ist so einfach: das Fremde einfach so lange und so herzlich umarmen, bis das Feindliche erstickt.

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