
Krebsrisiko bei Fleischverzehr : Es geht nicht nur um die Wurst
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Wie gesagt, an solche makabren Zahlenspiele sollten wir uns längst gewöhnt haben. Sie sind alles andere als neu. Doch wahr ist auch: Wir verdrängen sie sehr zuverlässig, und die meisten wurschteln weiter wie bisher. Deshalb ist das Sinnvollste, was sich aus der Publikation der Krebsagentur herauspressen lässt, die sichere Erkenntnis, dass die Sensibilisierung der Massen in der Zu-viel-von-allem-Kultur zumindest für einen Augenblick gelungen sein dürfte.
Das bedeutet nicht, dass die Weltgesundheitsorganisation, als sie vor einem Jahr den Entschluss zu einer offiziellen Neubewertung gefasst hat, diese Signalwirkung nicht vielleicht doch sehr gezielt in ihr Kalkül einbezogen hätte. Die Gesundheitsbehörde - aber längst nicht nur sie innerhalb der Vereinten Nationen - hat mit dem Zuwachs an medizinischem oder allgemeiner an wissenschaftlichem Wissen einen Codex zurechtgelegt, der den Begriff „Public Health“ auf einen globalen Punkt bringt. Man kann das als Verschwörungstheorie abtun. Tatsächlich ist die Weltgesundheitsorganisation jedoch immer stärker bemüht, die Evidenzen für eine grundlegende Neuausrichtung unserer Konsumgewohnheiten zu sammeln - und entsprechende Verhaltensänderungen dort zu bewirken, wo sich das Zusammenleben von bald neun oder zehn Milliarden Menschen schädlich auswirken wird.
Die sinnvolle Agenda der WHO
Die drohende Verdoppelung der Rauchertoten bis 2030 allein in China war nicht der erste publizistische Vorstoß (jüngst im „Lancet“), der mit apokalyptischem Unterton verbreitet wurde und den globalen Gesundheitszielen der Organisation in die Karten spielte. Es war auch die Weltgesundheitsorganisation, die sich an die Spitze einer zunächst vorwiegend westlichen Gesundheitsbewegung gesetzt hat, die mit Kassandraqualitäten vor der Ausbreitung chronischer Volkskrankheiten wie Diabetes und Fettsucht warnt und dafür sowohl die Zucker- als auch eben die Fleischindustrie ins Visier nimmt. Dass sich daraus in vielen Ländern schon Debatten um kollabierende Gesundheitssysteme, um Zuckersteuer und Kennzeichnungspflichten à la Nikotin entwickelt haben, muss man dem aufklärerischen Ideal der WHO-Gesundheitspolitik zugutehalten.
Die Frage, ob sie damit ideologische Ziele verfolge oder wenigstens unterstütze, lässt sich mit der vorliegenden Evidenz nicht beantworten. Man mag es ihr aber nicht unterstellen. Denn allein die Zunahme an individueller Lebenszeit und -qualität, die mit einer gewissermaßen leitliniengerechten bewussten Lebensweise einhergeht, ist unbestritten. Der Preis dafür ist allerdings auch klar: weniger Konsumfreiheit, mehr Disziplin. Selbst die Freiheit, sich selbst durch ungesunden Lebensstil zu schaden, lässt sich mit guten medizinischen - nämlich psychiatrischen - Gründen als Irrweg begründen.
Früher hatten die Empfehlungen und Warnungen der Weltgesundheitsorganisation eher abstrakten und formalen Charakter. Heute kann es ihr nicht konkret genug sein. Die wissenschaftliche Medizin hat sie dafür auf ihrer Seite. Und nicht nur sie. In der Debatte um den Klimawandel steht der weltweit rapide steigende Fleischkonsum heute am selben Pranger wie Regenwaldabholzung und Kohleförderung. Immerhin verursacht die Rinderproduktion schätzungsweise ein Fünftel der weltweiten Treibhausgasemissionen.
„Weniger Fleisch heißt weniger Hitze.“ Solche Parolen, die auf ein Umdenken zugunsten „klimaneutraler“ Verzehrgewohnheiten zielen, stammen nicht etwa von Veganer-Aktivisten, sondern werden als griffige Formel vom Wissenschaftsbetrieb selbst produziert. Es ist weit mehr als ein pädagogisches Moment, das bei solchen Schlagzeilen greift. Verhaltensänderung ist das Ziel. Die Weltgesundheitsorganisation hat erkannt, dass sie mit der digitalen Vernetzung fast des gesamten Globus einen Zugriff auf die Köpfe hat, wie man sich ihn für eine supranationale Institution mit dem Auftrag zur Weltverbesserung nur wünschen kann. Dass sich dann in diesen politisch korrekten Datenfluss gelegentlich auch halbverdaute oder schwerverdauliche Gesundheitsinformationen mischen, müssen wir wohl oder übel in Kauf nehmen.