Europa nach dem Brexit : Auf Kosten unserer Kinder
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Navid Kermani Bild: dpa
Seit dem Brexit-Votum der Briten beschleicht mich eine Furcht: Das historische Geschenk der europäischen Einigung wird verspielt. Was ist nun zu tun? Ein Gastbeitrag.
Wer nach dem Krieg in Westdeutschland geboren wurde, hat immer mit Europa gelebt. Er kennt es nicht anders, als dass an den Institutionen, die dem Projekt der Aufklärung eine politische Gestalt gegeben haben, herumgemäkelt wurde, an der Montanunion, der Wirtschaftsgemeinschaft, dem Gerichtshof für Menschenrechte, dem Europäischen Parlament, der Brüsseler Bürokratie. Aber Europa war doch stets eine Wirklichkeit; es war nicht nur da, es verstetigte und erweiterte sich auch kontinuierlich. Ja, selbst das Ach! über Europa gehörte zu dieser Kontinuität.
Noch vor einem Jahr, während der Schulden- und vor der Flüchtlingskrise, war es allenfalls ein Phantasma irgendwie unappetitlicher Parteien, dass Europa scheitern könnte - Europa hier nicht im geographischen Sinne gemeint, die schiere physische Fortdauer schien durch die atomare Bedrohung durchaus nicht jederzeit und überall gesichert, sondern Europa als Willensgemeinschaft und politische Union, Europa mit seinen unantastbaren Grundrechten, offenen Grenzen, überstaatlichen Institutionen, dem gemeinsamen Markt und, am wichtigsten, mit einer Gerichtsbarkeit, die über dem nationalen Recht steht. Aber seit dem vergangenen Freitag beschleicht wohl nicht nur mich die Furcht, dass unsere Generation der heute Vierzig-, Fünfzig-, Sechzigjährigen das große, ja historisch kaum glaubliche Geschenk der europäischen Einigung verspielt und unseren Kindern einen Kontinent hinterlässt, auf dem der Nationalismus Urständ feiert.
Natürlich beruhigen Europas Politiker und machen Mut, das ist schließlich ihre Pflicht. Aber auch sie werden die tiefgreifende Legitimationskrise nicht ignorieren können, in die Europa durch das britische Votum geraten ist. Denn nun herrscht nicht mehr nur der vage Eindruck, nun hat jedenfalls ein europäisches Land bewiesen, dass die Mehrheit der Wähler Europa in der bestehenden Form ablehnt. Natürlich, anderen Nationen steht Europa traditionell näher; aber kann man sicher sein, dass ein Referendum in Frankreich, in Deutschland, in Italien nicht zum selben Ergebnis führen würde? Und solange man die Menschen nicht fragt, wird das stärkste - und womöglich sogar richtige Argument - der Europagegner die fehlende demokratische Legitimation der Europäischen Union sein. Tatsächlich hat sie an den Wahlurnen fast immer verloren, ob nun bei den Referenden zur Verfassung, den Volksabstimmungen zur EU-Zugehörigkeit in der Schweiz oder zuletzt in den Niederlanden zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine.
Vorausschauende Politiker brauchen keine Volksabstimmungen
Vorausschauende Politiker können Umfragewerte durchaus ignorieren - weder das Grundgesetz noch die Römischen Verträge oder der Kniefall von Warschau wären seinerzeit in Volksabstimmungen gebilligt worden. Speziell die Bundesrepublik Deutschland verdankt Staatsmännern wie Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl, die sich über den Zeitgeist hinweggesetzt haben, ihre heutige demokratische Verfasstheit, wirtschaftliche Blüte und politische Einheit. Aber wenn ihre Visionen nicht nachholend, in der pragmatischen, klugen Anwendung die mehrheitliche Zustimmung gewonnen hätten, wären weder die Westbindung noch die europäische Aussöhnung von Dauer gewesen.