Stimmung in Griechenland : Das laute Sterben einer Gesellschaft
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Ein Riss geht durch dieses Volk: eine Teilnehmerin der griechischen Pro-Euro-Demonstration vom vergangenen Dienstag. Bild: Imago
Ein Land im Ausnahmezustand, eine Bevölkerung ohne Sicherheiten: Griechenland verliert vor der morgigen Volksabstimmung die letzten Reste seines Zusammenhalts.
Der Filmemacher Theo Angelopoulos hat seinen griechischen Landsleuten 1995 mit „Der Blick des Odysseus“ eine warnende Allegorie geschenkt. Ein Taxifahrer hält während der Fahrt vom nordgriechischen Florina nach Albanien auf einer verschneiten Bergstraße des Pindos-Gebirges an. Zusammen mit seinem Fahrgast, einem Filmregisseur, blicken beide zunächst stumm in die einsame stürmische Landschaft. „Weißt du was? Wir sterben als Volk, unser Kreis schließt sich. Wir stehen, ich weiß nicht wie viele tausend Jahre, zwischen Steinen und Statuen - und wir sterben“, sagt der Taxifahrer in leisen, aber dramatisch betonten Worten. Er steigt aus, stapft in den hohen Schnee und schreit beschwörend: „Aber wenn wir schon sterben müssen, dann soll es schnell gehen. Denn die Agonie ist zu lang und sehr laut.“
Für die Rolle des Taxifahrers wählte Angelopoulos einen volksnahen Schauspieler, den 2011 verstorbenen Thanassis Vengos. Beide, Vengos und Angelopoulos, waren auf jeweils eigene Art Chronisten ihres Heimatlandes. Der im Januar 2012 während der Dreharbeiten zu einem Film über die Schulden- und Flüchtlingskrise durch einen Unfall umgekommene Angelopoulos glänzte durch tiefsinnige epische Filmszenen, in denen er die Missstände Griechenlands und der Balkanregion einem internationalen Publikum ans Herz legte. Vengos stellte wie ein griechischer Louis de Funès in humoristischer Weise die Eigentümlichkeiten der modernen Hellenen dar. Doch beide Warner konnten nicht verhindern, dass der Kreis geschlossen wurde.
Für das eigene Geld Schlange stehen
Seit vergangenem Dienstag ist Griechenland das erste Land der wirtschaftlich entwickelten Welt, das einen Kredit des Internationalen Währungsfonds nicht abzahlen konnte. Es reiht sich damit in eine Reihe ein mit Somalia, Sudan, und Zimbabwe, die ebenfalls ihre Kredite nicht abgelöst haben. Die griechischen Banken sind geschlossen. Pro Kopf und Tag können sechzig Euro an Bankautomaten abgehoben werden - sofern der Automat noch Geld hat. Es gibt Rentner, die vor den Automaten anstanden und in der sommerlichen Hitze Herzinfarkte erlitten haben.
„Wie soll ich die Pflegerin meiner Schwester bezahlen? Die will jetzt ihr Gehalt, sonst ist sie weg. Meine Schwester stirbt ohne Pflege. Stimmt alle mit Ja zu Europa. Schickt Tsipras zum Teufel“, schreit eine Rentnerin in Kolonaki, einem der reicheren Viertel Athens, vor einem Bankautomaten. Vor einem anderen im ärmeren Kipseli hat eine junge Dame gerade Geld abgehoben. Sie hält die Scheine demonstrativ hoch, es sind zwei Zwanziger: „Ich brauche nur vierzig Euro. Die zwanzig, die ich nicht nahm, sind nun für jemand anderen drin. Beruhigt euch“, versucht sie das aufgeregte Dutzend noch wartender Leidensgenossen aufzumuntern. Nichts ist in diesen Tagen frustrierender, als nach dem Schlangestehen leere Geldautomaten vorzufinden. Manchen Zeitgenossen widerfährt das mehrfach. Übler dran sind nur solche Menschen, hauptsächlich Rentner, die gar keine Bankkarte haben.
Das Ende Griechenlands, wie wir es kennen
Für sie, und nur für sie, wurden von Mittwoch an die Banken geöffnet. Es gab 120 Euro pro Kopf. Am frühen Dienstagmorgen herrschte noch Ungewissheit. Eine schwarzgekleidete, vom Alter gebeugte Seniorin klagte da vor einer verschlossenen Bank: „Was soll ich nur tun? Ich kann noch nicht mal Milch oder Brot kaufen.“ „Bitte, Oma, sorge dich nicht“, antwortete ein knapp vierzigjähriger Mann mit einer sanften Betonung des Wortes „Oma“, als wäre die Frau seine eigene Großmutter. Er steckte der Alten einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand und verschwand, bevor sie sich bedanken konnte. Solche Beispiele für Altruismus und Solidarität waren in den letzten Jahren immer seltener geworden.