Das Verfassungsgericht in Zeitnot : Dalli, dalli, das Haus brennt!
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Beim Bundesverfassungsgericht geht es um juristische Sorgfalt und rechtspolitische Voraussicht. Bild: dapd
Europa marschiert im Sauseschritt: Die Politik drängt in der Eurokrise auf möglichst schnelle Entscheidungen. Wie viel Zeitdruck bekommt dem Recht?
Der Faktor Zeit droht zu einem verfassungsrechtlichen Entscheidungsfaktor zu werden, sich einzuschmuggeln in die Maßstäbe des Grundgesetzes und sich dort festzusetzen. „Nur schnelles Recht ist auch gutes Recht“ oder „Zögerliche Gerichte verhindern vernünftige Lösungen“ - so lauten die einleuchtenden Wahrheiten, und die IWF-Chefin Christine Lagarde soll mit dem Verlassen des Verhandlungsraums gedroht haben, wenn sie noch einmal das Wort „Bundesverfassungsgericht“ hören müsse.
Der gründlichste Hin-und-her-Wender des juristischen Blicks scheint in der Tat das Bundesverfassungsgericht zu sein, und daran nahm bislang auch niemand so richtig Anstoß. Mit Recht: Wo sonst als bei diesem Gericht geht es uns in dieser Dringlichkeit um juristische Sorgfalt und rechtspolitische Voraussicht? In der Erledigung seiner zentralen Aufgaben, die unter den Augen der Öffentlichkeit liegen, scheint das Bundesverfassungsgericht alle Zeit der Welt zu haben: Es bereitet seine Verhandlungen minutiös vor, es begründet seine Entscheidungen tief und weiträumig, es erlegt den anderen Verfassungsorganen bisweilen zeitraubende Pflichten auf, die eine schnelle Problemlösung unmöglich machen, und es zieht schon immer die Kritik auf sich (und beteiligt sich bisweilen auch selbst daran), es sei angesichts seiner Aufgaben und deren Bearbeitungsformen überlastet.
Im Streit unserer Tage geht es um die verfassungsrechtliche Konzeption von „Europa“. Mir fällt kein Entscheidungsfeld des Bundesverfassungsgerichts ein, wo wir derzeit dringlicher auf juristische Sorgfalt und rechtspolitische Voraussicht angewiesen wären. Nur: Wir und das Gericht haben hier nicht alle Zeit der Welt. Es sieht so aus, als finde die goldene Zeit der Gründlichkeit gegenwärtig an diesem Gegenstand „Europa“ ihr Ende. Die Gründe reichen von Pressionen aus der Natur der Sache bis hin zu Druck aus politischem Kalkül.
Kerosin und Karlsruhe
Wenn unser früherer Außenminister Joschka Fischer richtigliegt, so steht das europäische Haus in Flammen, und gelöscht wird mit Kerosin. Er meint: Die Finanzkrise wird sich in der Eurozone zu einer Existenzkrise auswachsen, Griechenland steht einen Schritt vor dem Chaos, und der nach diesem Schritt einsetzende Sturm auf die Banken in Spanien, Italien und Frankreich wird eine Lawine auslösen, die Europa unter sich begräbt. Mit dem Zerfall des Euro und der EU wird Europa sich von der Weltbühne verabschieden, und all das wird uns nicht in Jahren, sondern schon in Tagen und Wochen, in Monaten vielleicht, ereilen. Verfassungsrechtlich freilich werden die zu erwartenden Verwerfun-gen nach Fischers Einschätzung so grundstürzend nicht sein, weil sie eh schon eingetreten sind: Die nationalen Regierungen in der Eurozone agieren, so sieht er das, angesichts der Krise schon heute de facto als gemeinsame Regierung (die es von der Verfassung her derzeit eigentlich nicht geben darf).
Wenn nun das Bundesverfassungsgericht, wie letzte Woche, der Bundesregierung aufgibt, den Bundestag über neue Einrichtungen wie etwa den ESM rechtzeitig und vollständig zu unterrichten, oder den Bundespräsidenten mit Erfolg ersucht, mit der Unterzeichnung der beiden Gesetze zuzuwarten - ist das schon Kerosin, oder ist es nur das zeitweise Abstoppen des rettenden europäischen Löschwassers bis zum Ende des Palavers der deutschen Verfassungsorgane? Aber können wir uns diese Behäbigkeit überhaupt leisten? Oder ist das gar, ganz im Gegenteil, eine gute Idee, die am Ende uns allen nützt? Gibt es überhaupt verlässliche Maßstäbe für eine Antwort auf diese Fragen?
Das ist die Oberfläche der Zeitnot. Wenn man näher hinschaut, wird es nur noch schlimmer. Dann zeigt sich nämlich, dass hier nicht nur Strategien auf dem Spiel stehen, sondern auch Institutionen und Verfassungsorgane.