Europa : Wie wäre es mit Aufklärung?
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Europa - Eine Baustelle für Realpolitik? Bild: dapd
Die Realpolitik der Eurokrise löst vielleicht Probleme, sorgt aber nicht für Vertrauen. Nötig ist das Bekenntnis zu einer europäischen Wertegemeinschaft. Ein Gastbeitrag von Susan Neiman und Sigmar Gabriel.
Nirgendwo hat der Begriff „Realpolitik“ in den letzten Jahrzehnten einen solchen Bedeutungswandel erfahren wie in Deutschland. Er steht heute für die Entleerung des Politischen.
War er noch in den 1960er und 1970er Jahren durchaus progressiv besetzt, weil er als Aufforderung verstanden wurde, den Kalten Krieg zwar vorübergehend zu akzeptieren, die damit verbundenen Folgen für die Menschen aber durch eine visionäre und mutige Entspannungspolitik der linken Mitte zu überwinden, so steht Realpolitik heute für kühles und gleichsam technokratisches Regieren. Das mag in Krisenzeiten für öffentlichen Zuspruch sorgen, aber es verkennt das Wesen und den Sinn von Politik.
Die Misere des politischen Pragmatismus
Die Politik kleiner Schritte ist zum Symbol pragmatischen Regierens geworden. Die Gründe dafür sind unzählige: Manche behaupten, der Materialismus von links und rechts habe den Idealismus besiegt, so dass sich die Parteien inzwischen bis zur Unkenntlichkeit ähnelten; es gibt auch jene, die überhaupt am politischen Establishment verzweifeln und in einen für die Demokratie verhängnisvollen Fatalismus geflüchtet sind. Allen gemeinsam ist indes: Hier ist von menschlichen Gefühlen, Enttäuschungen, Verdrossenheit und Vertrauensverlust die Rede.
Vor allem fehlt es an Ideen und Konzepten für Europa: Der Kontinent scheint in der Hand von Ratingagenturen zu liegen. Die konservativen Regierungen der Europäischen Union beanspruchen, eine realistische Krisenpolitik zu betreiben. Im Rahmen der Möglichkeiten kauft Europa zu horrenden Preisen Zeit und hofft, dass irgendwann eine unsichtbare Hand die Märkte wieder beruhigt. Derweil aber steigen die Arbeitslosenzahlen in vielen europäischen Staaten, während ihre Wirtschaftsleistung sinkt. Gefangen in diesem Teufelskreis, fällt die Öffentlichkeit Europas zurück in ein konfrontatives Denken, das eigentlich vorbei zu sein schien: Nationen gegen Brüssel, Deutsche gegen Griechen, Briten gegen den Rest Europas.
Aufklärung statt Technokratie
Die Wirklichkeit im Jahre drei der Euro-Krise zeigt, dass eine bloß verwaltete Politik, die sich nicht mit Leidenschaft an Idealen und Werten orientiert, lebloses und technokratisches Krisenmanagement bleibt, weil sie auf Furcht und Unsicherheit setzt, aber nicht auf Mut und Aufklärung.
Wenn irgendetwas in diesen Tagen mehr Skepsis, sogar Häme, als ein Appell für Europa hervorruft, dann ist es vermutlich ein Appell an die Aufklärung. Doch die Aufklärung ist Europas beste Erfindung, und obwohl es gerade manchen Europäern am wenigsten klar zu sein scheint, sind die Ideale der Aufklärung nirgendwo auf der Welt so sehr Teil des Alltags wie in Europa.
In Europa gelten Obdach, Gesundheitsfürsorge und Bildung nicht, wie anderswo, als Vergünstigungen, sondern als Rechte. Wer mehr als einer Arbeit nachgehen muss, um die Grundbedürfnisse seiner Familie zu sichern, wer zwei Wochen Urlaub als erfreuliche Belohnung für jahrelange Aufopferung im Dienst an der Firma hält, wird kaum Zeit oder Energie haben, sich über die politischen Einrichtungen seiner Gesellschaft Gedanken zu machen. Durch ihre Kulturförderung und die Bereitstellung der für ihren Genuss nötigen Zeit unterstützen europäische Regierungen nicht bloß Unterhaltungsbedürfnisse und Vergnügungen - so unterstützungswürdig diese auch sein mögen -, sie legen damit vor allem das Fundament für Bürgerengagement.