Ein Taxifahrer in Istanbul : Früher hätten sie mit Patronen geschossen
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War selbst noch bei keiner Demonstration dabei: Mustafa, Taxifahrer in Istanbul Bild: Jakob von Siebenthal
Wie stehen einfache Leute zu den Protesten in der Türkei? Wir haben mit einem Taxifahrer in Istanbul gesprochen - über gute Gründe für die Demonstrationen, das Leben unter Erdogan und die Situation im Osten des Landes.
Den Kern der Proteste gegen die Regierung Erdogan bilden Leute aus der gebildeten, säkularen, städtischen Mittel- und Oberschicht. Zwar schließen sich mit jedem neuen Tag immer mehr Türken ihnen an, doch jene, die eher in einfacheren Verhältnissen leben, bleiben zögerlich. Dem Taxifahrer Mustafa, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung sehen will, begegne ich auf dem Weg durch die Stadt. Er wurde 1968 geboren und hat bisher bei keiner einzigen Demonstration mitgemacht.
Was denken Sie von Tayyip Erdogan und den Protesten?
Ich? Ich denke gar nichts.
Gar nichts?
Nein, das stimmt nicht, ich denke natürlich doch etwas. Vor elf Jahren, bevor Erdogan an die Spitze der Regierung gewählt worden ist, war alles anders in der Türkei. Es gab keine politischen Zeitungen und keinen Frieden mit den Kurden. Man durfte nicht einmal sagen, dass man Kurde ist oder Alevit. Ich bin Kurde, ich stamme aus dem Osten der Türkei, ich weiß also, wovon ich rede. Und jetzt gibt es den Friedensprozess mit der PKK, ich kann sagen, dass ich Kurde bin und es gibt sogar alevitische Programme im Fernsehen. Die Regierung arbeitet also gut. Trotzdem, das muss auch gesagt werden, haben die Demonstranten Recht. Jede der Gruppen, die jetzt auf die Straße gehen, haben gute Gründe dafür. Die Künstler wegen des Abrisses ihres Emek-Kinos, wo statt des Kinos eine Shoppingmall hin soll und wegen der Vernichtung des Gezi-Parks, wo Erdogan ebenfalls ein Einkaufszentrum bauen will. Die Aleviten wiederum sind im Recht, weil Erdogan für die neue Bosporusbrücke, die er bauen wird, ausgerechnet den Namen Yavuz-Sultan-Selim-Brücke ausgewählt hat - also den Namen von Sultan Selim I., der vor 500 Jahren das größte Massaker unter den Aleviten angerichtet hat, das es jemals in deren Geschichte gab. Und die Kurden haben sowieso alle möglichen guten Gründe, gegen die Regierung zu demonstrieren. Für mich ist Erdogan ein Firsatci, so nennt man Leute in der Türkei, die jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um sich zu bereichern. Trotzdem ist seine AKP die allerbeste Regierungspartei, die wir jemals hatten. Wäre die kemalistische Oppositionspartei CHP an die Macht gekommen, gäbe es mit den Kurden immer noch Krieg.
(Das Taxi biegt in die Straße ein, an der Erdogans Istanbuler Büro und der Dolmabace Palast liegt. Dort, wo rechts und links der Straße einmal gepflasterte Bürgersteige waren, ist nur noch blanke Erde.)
Was ist denn hier passiert, das war gestern Abend aber noch nicht so.
Die Polizei hat über Nacht alle Pflastersteine entfernt, damit die Demonstranten keine Munition mehr gegen sie haben.
Bisher haben ja immer die Polizisten mit der Gewalt angefangen.
Was sollen sie auch machen, sie sind dafür da, für Ordnung zu sorgen.
Dabei gehen sie aber ganz schön brutal vor.
Heute beschießen die Polizisten die Leute mit Tränengas, vor zwanzig Jahren haben sie noch mit richtigen Patronen auf Demonstranten geschossen. Das war viel schlimmer, es gab jedes Mal viele Tote, heute ist das doch schon viel besser so. Wissen Sie, wenn man den Polizisten Gewehre, Schlagstöcke, Wasserwerfer und Tränengas gibt, dann benutzen sie all das natürlich auch. Würde man ihnen nichts von all dem geben, müssten sie versuchen, mit Worten für Ordnung sorgen.
Davon ist man in der Türkei ja ziemlich weit entfernt. Wenn ich die Polizisten hier mit den Polizisten europäischer Länder vergleiche, Deutschland zum Beispiel, dann benehmen sich die Polizisten hier, als seien sie im Krieg. Warum ist das so?