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Drogenkonsum : Schneeland: Wieviel koksen die Deutschen?

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Rhein bei Mannheim: Schneemassen im Wasser?

Rhein bei Mannheim: Schneemassen im Wasser? Bild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Kann man im Flußwasser den Drogenkonsum eines Volkes ermitteln? Was ihre italienischen Kollegen vormachten, haben deutsche Forscher nun wiederholt: die Geschichte einer vermeintlichen Sensation.

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          Sie sind unter uns, meist unerkannt. Manchmal keimt ein Verdacht, wenn jemand allzu aufdringlich die Spritzigkeit seiner Gedanken zur Schau trägt. Aber es bleibt bei einer bloßen Ahnung.

          Denn Kokser verraten sich nicht so leicht wie andere Rauschgiftsüchtige. Aber wir haben ihre Spur aufgenommen, nicht die individuelle, sondern die kollektive. Es ist eine nasse Spur, sie verläuft durch Abwassersysteme bis in unsere Flüsse hinein. Sie beeindruckt durch ihren zungenbrechenden Namen: Benzoylecgonin. Wo man Benzoylecgonin findet, ist man Koksern auf die Schliche gekommen. Denn bei dieser chemischen Verbindung handelt es sich um ein Abbauprodukt des Kokains, das im Körper des Drogenkonsumenten entsteht und mit dem Urin ausgeschieden wird. Jeder Kokser, der seine Notdurft auf der Toilette statt hinter dem Busch erledigt, hinterläßt somit eine chemische Fährte. Sie erstreckt sich von der Toilette über den Kanal und die Kläranlage bis in die Flüsse hinein.

          Ungeahnte Mengen

          Alles fließt, auch das Kokain. Und dieser Spur sind jetzt Chemiker vom Institut für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung (IBMP) in Nürnberg-Heroldsberg nachgegangen. Was sie herausgefunden haben, wurde von Spiegel Online in dem Satz zusammengefaßt: „Deutsche koksen ungeahnte Mengen.“ Da haben wir also den Salat. Um Deutschland, so kann man schließen, steht es noch schlechter als ohnehin schon angenommen. Ein Volk, das anscheinend nicht einmal mehr durch Unmengen von Kokain aus dem Tal der Wehleidigkeit herauszukommen vermag.

          Wie verfällt man auf die Idee, im Flußwasser den Drogenkonsum eines Volkes zu ermitteln? Diese Frage können wahrscheinlich am ehesten italienische Forscher beantworten. Denn das, was jetzt in Deutschland praktiziert wurde, hat man in Mailand bereits vorexerziert. Dort interessierte man sich für die Überreste von Kokain im Wasser des Po. Dieser Fluß, so berichteten die Forscher um Ettore Zuccato in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, führe ständig das Äquivalent von vier Kilogramm Kokain pro Tag mit sich. Rechne man zurück, komme man auf einen geschätzten Kokainkonsum, der weit über den offiziellen Angaben liege. Die italienischen Forscher priesen ihr Konzept der Probenentnahme und Analytik jedenfalls als einzigartige Möglichkeit, den Drogenkonsum in der Bevölkerung in „Echtzeit“ zu erfassen.

          Auch London kokst wie wild

          Ein neues Thema medialen Interesses war geboren. Die Zeitung Sunday Telegraph gab eine Studie in Auftrag, bei der die chemischen Spürnasen das Wasser der Themse prüfen sollten. Es kam, wie es kommen mußte: Auch in London wird offenbar gekokst wie wild. Italien, England - aber was ist mit Deutschland? Ist man hierzulande dem Kokain in ähnlichem Ausmaß verfallen? Dank Spiegel Online wissen wir jetzt, was wir schon wußten, aber nicht so genau: Ja, es gibt Anlaß zur Sorge. Denn das, was die Chemiker des IBMP ergründet haben, übertrifft die bisherigen Schätzungen zum Kokainkonsum. Nach Angaben des Studienleiters hat das Hamburger Medium die Untersuchung in Auftrag gegeben. Von Spiegel Online heißt es indes dazu: „Wir haben die Studie nicht im finanziellen Sinn in Auftrag gegeben, sondern sie initiiert und journalistisch begleitet.“

          Wie ihre italienischen Kollegen haben die Experten des Instituts in Nürnberg-Heroldsberg für ihre Analysen das Verfahren der Massenspektrometrie genutzt und es noch verfeinert. Diese Technik erlaubt es, Stoffe noch in einer Menge aufzuspüren, die sich ob ihrer Winzigkeit dem Vorstellungsvermögen - zumindest demjenigen der nicht unter Drogen stehenden Menschen - praktisch entzieht. So werden die im Wasser gefundenen Konzentrationen des Benzoylecgonins in der Maßeinheit Picogramm pro Milliliter angegeben. Ein Picogramm ist der billionste Teil eines Gramms. Eine solche Konzentration entspricht einem Gramm einer Substanz aufgelöst in einer Million Tonnen eines anderen Stoffes. Diese bewundernswerte Empfindlichkeit führt dazu, daß man fast alles fast überall nachweisen kann.

          Nichts ist „clean“

          Praktisch nichts ist „clean“, schon gar nicht das Wasser der Kläranlagen und Flüsse. In zwölf großen Städten haben die Forscher Proben entnommen. Anhand des Gehalts an Benzoylecgonin und unter Berücksichtigung der Ausscheidungsrate und des Abbaus in Kläranlagen rechneten sie dann aus, wieviel Kokain im jeweiligen Einzugsbereich konsumiert werden muß, damit die gemessene Konzentration erreicht wird.

          Die höchste Jahresmenge an Kokain, fast sechzehn Tonnen, errechnete sich aus den Mannheimer Proben, gefolgt von denen aus Düsseldorf und Köln. Insgesamt scheint es, daß etwa doppelt so viele Menschen Kokain nehmen, wie man aufgrund von Umfragen annimmt. Fritz Sörgel, der Leiter des IBMP, warnt aber davor, direkt auf den Kokainverbrauch in der jeweiligen Stadt zu schließen. Feststellen könne man lediglich, daß die gefundene Menge vom Flußursprung bis zur entsprechenden Stelle eingebracht wurde. Die Kokser bleiben anonym.

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