Dossier : Deutsche Blogger
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Die Menge an Information ist nicht das Problem am Internet, solange sie jemand einordnet und bewertet. Lange sah es so aus, als könnten Blogger das übernehmen. Leider beschäftigen sie sich lieber mit sich selbst.
Wenn man das Internet einmal für einen Moment vergisst, dann handelt diese Geschichte von ein paar Leuten, die alles anders machen wollten. Sie gingen an einen Ort, an dem noch keiner vor ihnen war und bauten an einer Gemeinschaft, wie es sie noch nicht gab.
In dieser Gemeinschaft war jeder mit jedem verbunden, und damit schien alles aufgehoben zu sein, was die Einzelnen sonst voneinander trennt. Es war eine Gemeinschaft, die so offen und frei sein sollte, dass sich in ihr keine Grenzen bildeten, keine Hierarchien und kein Besitz. Eine Gemeinschaft eben, in der all ihre Mitglieder ganz anders miteinander umgehen, als sie das bisher kannten. Und warum sollte ihnen das auch nicht gelingen, wo diese Geschichte - und hier ist der Moment dann vorbei - im Internet spielt?
Die Redaktion von spreeblick sitzt in jener Art Büro, wie es sie inzwischen häufig gibt in Berlin. Ein schöner, karger Raum, in dem sich die Computer dekorativ auf Schreibtischen verteilen. Nur ein großes Schaufenster, das zur Straße hin weist, verrät, dass dies einmal ein Laden gewesen sein muss. Wenn hier früher die Produkte von Arbeit ausgestellt wurden, dann ist es heute die Arbeit selbst.
Es ist morgens halb elf, aber außer Johnny Haeusler ist gerade keiner da aus der Redaktion, was nicht schlimm ist, weil die Autoren ihre Beiträge auch von Zuhause schicken können. An diesem Morgen haben sie noch keine geschickt, was auch nicht schlimm ist. Auf spreeblick geht es zurzeit ohnehin nur um den sexuellen Missbrauch am Canisius-Kolleg. War die Diskussion unter den Lesern anfangs noch sachlich, sickerten später Gerüchte ein, Namen wurden genannt, Behauptungen aufgestellt, es wurde beleidigt und bezichtigt, und in ein paar Tagen wird Johnny Haeusler die Debatte abbrechen, weil sie nicht mehr zu beherrschen ist. Im Moment aber steht er noch in der Küche seiner Redaktion und sucht nach einer sauberen Kaffeetasse.
„Warum muss eigentlich ich immer abspülen?“
Johnny Haeusler ist Mitte vierzig und wirkt seltsam sanft und vorsichtig für jemanden, der in die Öffentlichkeit strebt. Er war Sänger einer Rockband, Radiomoderator und Mediendesigner, bevor er vor acht Jahren auch noch Blogger wurde. Spreeblick ist sein Projekt. Das Blog funktioniert wie eine Zeitschrift, und da sie im Internet erscheint, funktioniert sie manchmal sogar wie eine Echtzeitschrift. Mehrere Autoren schicken jeden Tag Texte, Fotos oder Videos, die nach den Rubriken Pop, Politik, Produkte oder Positionen abgelegt werden. Das Blog ist seit langem eines der bekanntesten in Deutschland, und es hat nur einen einzigen Text gebraucht, das zu werden.
Der Eintrag ist fünf Jahre alt und handelt von Jamba, einer Firma, die Spiele und Klingeltöne für das Handy verkauft. Ihr Name ist heute fast vergessen, aber damals schaltete sie ständig Werbung im Fernsehen, Spots mit verrückten Fröschen, die vor allem Jugendlichen gefielen, Erwachsenen aber auf die Nerven gingen, Johnny Haeusler auch. Er verfasste einen Text, in dem er vor den undurchsichtigen Geschäftsbedingungen der Firma warnte und stellte ihn auf spreeblick. Es war eine gut geschriebene Aufklärung im Stil der „Sendung mit der Maus“, nicht sensationell witzig, aber treffend.
Dieser Text wurde innerhalb weniger Tage so oft weitergeleitet, dass er in den Suchmaschinen bald als Erstes auftauchte, wenn man Jamba eingab, und das blieb über Jahre so. Über dem Verweis auf die Firma stand zuerst die Warnung vor ihr. Der Eintrag löste eine Debatte über ihre Geschäftspraktiken aus, die der Firma sehr geschadet hat und er wird heute in wissenschaftlichen Abhandlungen als Beweis für die Macht der Blogger geführt. Ein einziger Text.
„Aber gut“, sagt Johnny Haeusler, „ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden.“
Im Grunde steckt in dem Beispiel schon vieles von dem, was das Bloggen vermag. Jeder kann veröffentlichen, jeder kann sehen, was veröffentlicht wird. Der Zugang ist frei. Keiner muss eine Redaktion überwinden. Es gibt keine Kleinen und keine Großen. Mag sein, dass sich Aufmerksamkeit im Internet verläuft, aber jeder kann sie binden und auf einen Punkt lenken. Dann hat sie einen Effekt. Johnny Haeusler hat er berühmt gemacht und vieles von dem, was er danach unternahm, der Versuch um das Blog ein kleines Unternehmen aufzubauen, geht auf diese Erfahrung zurück.
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Ein Blog ist zuerst einmal ein Gefäß. Leute, die viel Zeit im Internet verbrachten, nutzten eigene Seiten, um darauf Adressen zu sammeln, die sie gefunden hatten und zu kommentieren, was sie daran für andere für interessant hielten. Mitte der neunziger Jahre war das Einrichten einer solchen Seite ohne technischen Sachverstand kaum möglich, weswegen viele der Fundstücke naturgemäß nur für solche Sachverständige interessant waren. Die Experten blieben unter sich. Das änderte sich erst, als mit der Jahrtausendwende Dienste wie antville.org, blogger.com oder WordPress.com Programme anboten, die das Pflegen einer eigenen Seite erleichterten.
Auf einmal konnte jeder ein Blog haben. Heute dauert es fünf Minuten, eines einzurichten. Danach hat man eine eigene Adresse im großen, weiten, endlosen Internet. Eine Adresse, die außer einem selbst allerdings erst einmal niemand kennt.
Das Café St Oberholz liegt in Berlin, an einer Kreuzung, auf der sich fünf Straßen und vier Bahngleise treffen. Der Hackesche Markt ist nicht weit, aber Touristen finden selten her und in einem der grauen Eckhäuser wurden bereits eine Fastfoodkette, eine Schwulendisko und ein Tabledanceladen aufgegeben, als sich im Sommer 2005 Ansgar Oberholz einmietete, um ein Café zu eröffnen.
Er bot einfache Speisen an, gab der Einrichtung etwas Ländliches und schaltete kabelloses Internet frei. Es war die Zeit, als es noch als seltsam galt, mit einem Laptop im Café zu sitzen, im Oberholz sollte das ohne schlechtes Gewissen möglich sein, und so saßen da bald Leute, die stundenlang von einem Latte Macchiato tranken, während sie sich kostenlos durch das Netz bewegten. Wären da nicht noch andere Gäste gewesen, Ansgar Oberholz hätte gleich wieder dichtmachen können.
Ungefähr nach einem Jahr zog das Geschäft auf einmal an. Immer mehr Leute mit Laptops kamen, Journalisten wollten über das Café berichten, Fotografen Bilder machen, Touristen hinterließen im Netz Nachrichten, dass sie im Oberholz seien. Als Ansgar Oberholz nach dem Grund fragte, erfuhr er, dass sein Café die Zentrale einer digitalen Boheme sei.
Der Begriff entstammte einem Buch, das einige Wochen zuvor erschienen war. Es trug den Titel „Wir nennen es Arbeit“, und seine Autoren Holm Friebe und Sascha Lobo, Blogger der riesenmaschine, wollten darin zeigen, wie man ohne Festanstellung aber mit Internet sinnvoll leben konnte. Passagen ihres Buches hatten sie im Oberholz geschrieben, weswegen es naturgemäß vorkam. Sie waren ohnehin sehr oft ihr eigenes Beispiel. Ansgar Oberholz hatte nur ein Café betreiben wollen, in dem man nebenbei ein wenig arbeiten konnte, nun machten seine Gäste eine Lebenseinstellung daraus.
„Besser hätte ich es nicht treffen können“, sagt er.
Von da an berichteten die Medien häufig über das Oberholz. Die Leute mit den Laptops schienen die Boten einer neuen Arbeitswelt zu sein, deren Aussehen sich nun bebildern ließ. Ansgar Oberholz hat, bevor er das Café eröffnete, in der Werbung gearbeitet. Dort hatten sie auch immer versucht, einen Trend auszulösen, in dem sie ihn behaupteten. Oft hat das nicht geklappt.
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In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende entstehen viele der heute bekannten Blogs. Sie heißen spreeblick, wirres.net, blogbar, bildblog, netzpolitik, basicthinking, riesenmaschine. Ihre Autoren kommen nicht alle aus Berlin, aber viele, sie treffen sich auf den Bloggerpartys, die Johnny Haeusler organisiert, veranstalten Bloggerlesungen und sind sich einig darin, Avantgarde zu sein. Die meisten von ihnen sind zwischen Ende zwanzig und Ende dreißig, viele studieren, und einige haben bereits erfahren müssen, dass sie in den Organisationen, in denen sie eine Karriere beginnen wollen, Verlage, Agenturen, Parteien, nicht so frei arbeiten können, wie sie dachten. Also entscheiden sie sich dafür, außerhalb der verknöcherten Strukturen etwas aufzubauen. Sie haben Zeit, das Leben in Berlin ist günstig, und Bloggen das Hobby, das ihnen ihre Eltern bezahlen, bis sie davon leben können.
Jörg Wittkewitz hat zehn Jahre lang versucht, Maler zu werden, bevor er sein Abitur nachholte, an der Fernuniversität Philosophie studierte, und, da war er schon dreißig, als Werkstudent bei IBM nicht umhinkam, den Managern dort Denken wie aus dem neunzehnten Jahrhundert zu bescheinigen. Danach verfasste er einen, wie er sagt, heute noch legendären Artikel über Wissensmanagement für eine Computerzeitschrift, verdiente Geld mit Werbetexten über Software, bis die Firma, die er damit aufgebaut hatte, abgewickelt wurde und er mit dem Bloggen begann. Darauf kommt er dann nach einer Stunde Gespräch.
„Bloggen ist ein Lebensentwurf“, sagt Jörg Wittkewitz.
In dieser Stunde war es um die Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts gegangen, die Heisenbergsche Unschärferelation, Arbeitsteilung im Fordismus, die Zeitvorstellung der Maya, die Bedürfnispyramide eines Herrn Maslow, Personenfragebögen eines Herrn Belbin, einen russischen Revolutionär namens Godijew und die Rolle des Störers in homogenen Gruppen. All diese fremden Ideen hatte Jörg Wittkewitz zu einer eigenen, wenn auch noch nicht zusammenhängenden Theorie vom Internet verwoben und sich dazwischen immer wieder erkundigt, ob man auch folgen kann.
„Ist das bekannt?“
Er bloggt seit sechs Jahren aus Hannover, unter digitalpublic, aber er taucht in der Liste der wichtigen deutschen Blogs nie auf, dabei beschäftigt er sich mit fast nichts anderem. Er versucht, sich bekannt zu machen, indem er Kommentare in fremde Blogs schreibt und auf seinen eigenen verweist, er verfasst für andere Blogs hochkomplexe Artikel für fünfzig Euro, aber es ist schwer. Er ist jetzt Anfang vierzig und verdiente in manchen Monaten nur zweihundertfünfzig Euro. Um Geld kann es ihm nicht gehen.
„Das Internet“, sagt er, „ist das Vehikel, mit dem der Mensch aus seiner selbstgewählten Einsamkeit zu den anderen kommen kann.“
Einmal, erzählt Jörg Wittkewitz, sei Peter Handke auf einen seiner Einträge aufmerksam geworden und habe ihn treffen wollen, in Zürich. Leider hatte er kein Geld, dahinzufliegen.
Robin Meyer-Lucht erklärt sich am besten über sein Büro. Das Büro ist nicht groß, es liegen Papiere auf dem Boden herum, und der Schreibtisch darin sieht aus wie abgestellt, aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass er von diesem Büro aus direkt auf das Kanzleramt schaut, weswegen er eine Kamera ans Fenster gestellt hat, deren Bild er auf seine Internetseite überträgt, damit jeder sieht, dass er aufs Kanzleramt schaut. Außerdem geht es darum, dass dieses Büro im Bundespressehaus liegt, das für die politische Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften gedacht war, weswegen es so aussieht, als habe er, einziger Blogger unter ihnen, mehr mit ihnen gemeinsam als nur das Schild am Eingang. Er habe ein wertiges Umfeld gewollt, sagt Robin Meyer-Lucht. Aber weil er von allen Bloggern, die man getroffen hat, der einzige ist, der kontrollieren will, womit er zitiert wird, sagt er das jetzt nicht.
Er sagt: „Für ein Einzelbüro war es eine der charmantesten Lösungen.“
Wie Jörg Wittkewitz Theorien fremder Denker aneinander knüpft, so hängt Robin Meyer-Lucht die Namen von Chefredakteuren, Geschäftsführern und Bloggern aneinander, mit denen er im Kontakt ist, damit sie auf seine Texte hinweisen, so wie er auf ihre, und dabei schaut er ständig auf seinem Handy nach, wie sein aktuellster Text auf einer Plattform namens rivva ankommt.
„Manchmal ist es, als sei man in einem Rudel“, sagt er.
Das Blog von Robin Meyer-Lucht heißt carta, es existiert erst seit zwei Jahren, hat sich aber schnell in die zehn bekanntesten Blogs Deutschlands hinaufgearbeitet. Die meisten Artikel drehen sich um die Themen Medien und Netz und stammen nicht von Robin Meyer-Lucht. Er sammelt sie von vierzig anderen Autoren ein, denen er pro Beitrag manchmal nur fünfzig Euro zahlt. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, sich als Journalist einen Namen zu machen, für den man als Berater Geld verlangen kann. Das ist so, als schreibe ein Theaterkritiker Rezensionen, um dem Intendanten später Ratschläge zu verkaufen, wie er eine bessere Spielzeit zustande bringt. Robin Meyer-Lucht sieht darin kein Problem. Die Erlössituation zwinge ihn zur Multifunktionalität, sagt er, will aber so nicht zitiert werden.
„Ich habe mich bewusst entschlossen, nicht ausschließlich als Journalist zu arbeiten. Weil ich Projekte konkret umsetzen möchte. Weil die Honorare nicht mehr zu ertragen sind. Zugleich ist es mir wichtig, mich auch als Autor zu äußern.“
Markus Beckedahl muss keine Kamera auf das Kanzleramt richten, er ist schon im Bundestag. Er sitzt auf der Besuchertribüne des Petitionsausschusses und verfolgt die Debatte, über ein Gesetz, das die frühere Bundesfamilienministerin dazu gedacht hatte, Kinderpornographie im Internet zu bekämpfen, das in diesem Internet aber nur „Zensursula“ genannt wird. 134.000 Unterschriften waren bei der Petition gegen das Gesetz zusammengekommen, mehr als die Bild-Zeitung für die Halbierung der Mineralölsteuer eingesammelt hatte. Es war nicht leicht, klarzumachen, dass es um den Schutz der Freiheit ging, nicht um die Verteidigung des Falschen. Aber so, wie der Petitionsausschuss gerade diskutiert, wird der Bundestag das Gesetz bald wieder aufheben.
„Wir mussten viel dazu lernen“, sagt die SPD. „Wir bedanken uns für die Aufklärung“, sagt die FDP. „Wir freuen uns über den Erfolg der Petition“, sagen die Grünen und die Linken auch. Nur die CDU ist dagegen.
Markus Beckedahl hat vor acht Jahren mit dem Bloggen begonnen. Er nahm an einer Konferenz zur Zivilgesellschaft teil, über die kein Journalist berichtete. Also schrieb er ins Netz, was passierte. Er hat sich für Politik interessiert, später für die SPD gearbeitet und ist noch später zu den Grünen gegangen. Aber er fand kein Verständnis für die Themen, aus denen sich der Name seines Blogs zusammensetzt - netzpolitik. Viele der Auseinandersetzungen, die das Netz in den letzten Jahren mit der Politik hatte, hat Markus Beckedahl begleitet oder organisiert. Er ist einer der wenigen Blogger, die außerhalb des Netzes gehört werden. Er sitzt im Fernsehen oder beim Innenminister, und den Text, den er jetzt über den Petitionsausschuss schreibt, werden mehr Menschen lesen als die Texte aller anderen Blogger, die mit ihm auf der Besuchertribüne sitzen. Aber das merkt man ihm nicht an. Anders Jörg Wittkewitz nimmt er sich nicht wichtiger als sein Thema, anders als Robin Meyer-Lucht hat er überhaupt eins.
„Ich will nicht reich oder berühmt werden“, sagt er, „ich will Politik machen, bessere Politik.“
Markus Beckedahl ist inzwischen ein wichtiger Faktor in der Blogosphäre, er kann Themen lenken, sie größer oder kleiner machen. Er weiß, dass darin eine Versuchung liegt, aber sie scheint ihn nicht zu reizen. Er klingt eher enttäuscht, wenn er sagt, dass es die Leute letztlich immer für dieselben Muster interessieren - klein gegen groß, Netz gegen Institution, jung gegen alt. Das ist der Kampf, in welchen die Blogosphäre offenbar gern zieht - kleine, junge Netzbewohner gegen große, alte Institution.
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Unter den Medien, die von Bloggern gern „Holzmedien“ genannt werden, gibt es einen Wettbewerb, der misst, welche Zeitung oder Zeitschrift von anderen am häufigsten zitiert worden ist. Die Folge davon ist allerdings kein besserer Journalismus gewesen sondern nur, dass alle einander beobachten, statt auf sich selbst zu schauen. Unter Bloggern gibt es das Instrument auch. Es nennt sich Blogcharts und führt die hundert bekanntesten von ihnen auf. Darunter finden sich seit Jahren dieselben Namen. Zwischen ihnen hat sich ein System herausgebildet, das immer wieder aufeinander Bezug nimmt und sich so selbst erhält. Es ist nicht anders als in den klassischen Medien. Wer groß ist, dem fällt es leicht, groß zu bleiben. Wer klein ist, muss sich arrangieren, sonst kommt er nicht hinein. Es gibt noch eine Gemeinsamkeit: Die ersten 34 Blogs werden alle von Männern geführt. Erst dann kommt eine Frau.
Anne Roth (Schreibfehler nachträglich korrigiert) hat mit dem Bloggen angefangen, nachdem ihr Mann verhaftet worden war. Der Staatsanwalt warf ihm vor, Mitglied in einer linken, terroristischen Vereinigung zu sein. Ein Vorwurf, den sie so unhaltbar fand wie die meisten Medien, die später über den Fall berichteten. Einige Wochen lang schrieb sie über das Gefühl überwacht zu werden, das jede Regung des Alltags vergiftet, und stellte die Texte auf ihr Blog. Sie wollte das nicht für sich behalten, unternahm aber auch nichts, um gefunden zu werden. Als es dann passierte, weil Blogs wie netzpolitik auf sie hingewiesen hatten, bekam sie auf einen Schlag mehrere tausend Leser und tauchte in den Blogcharts auf.
„Da habe ich angefangen, ein bisschen zu spielen.“
Jeden Morgen schaute sie nun auf Seiten wie rivva, die anzeigten, welche Blogs in den letzten Stunden welche Texte geschrieben hatten und begann diese zu kommentieren. Sie merkte, dass sie schnell sein musste, weil nur die ersten Kommentare wahrgenommen wurden und dass nicht alle Artikel das Zeug hatten, eine Diskussion auszulösen. Wenn sie es geschickt anstellte und Zeit aufbrachte, dann konnte sie in diesem System ein Faktor werden. Es durfte sie nur nicht stören, dass sie es darin ausschließlich mit Männern zu tun hatte, die sich gegenseitig bestätigten, dass sie einander lasen und dass es sich fast immer um dasselbe drehte, das Netz und die Medien. Es störte sie aber.
„Alle haben davon geträumt, dass das Netz offen ist, weit und ohne Hierarchien“, sagt sie, „dabei ist es inzwischen ganz oft monothematisch, und es setzt sich der Stärkste durch.“
Anne Roth hat wieder aufgehört, rivva zu spielen, wie sie es nennt, weil es sie vom Schreiben abhielt, um das es ihr gegangen war. Sie hat noch immer keine Blogroll, in der sie auflistet, wen sie sonst liest, damit auch andere sie auflisten, und sie schreibt nur selten Kommentare. Sie hat einen Job in der Onlineredaktion des Bundestages, zwei Kinder und einen Mann mit einem Ermittlungsverfahren. Sie hat keine Zeit für so etwas. Das bedeutet nicht, dass es ihr nicht wichtig wäre, aber nicht so.
Frank Westphal ist eigentlich kein Blogger, er ist Programmierer, aber natürlich liest er Blogs. Er hatte sich über die Jahre angewöhnt, diejenigen, die ihn interessieren, in einem automatischen Abrufdienst zu abonnieren, der ihm die aktuellsten Beiträge zuschickt. Anfangs waren das ein paar dutzend, am Ende vierhundert, und er hatte die Übersicht verloren, was er inzwischen für logisch hält.
„Wir öffnen immer neue Kanäle“, sagt er, „aber wir kommen mit den Filtern nicht nach.“
Als er dann vor drei Jahren seinen Job als Programmierer kündigte, weil er ihn müde gemacht hatte, setzte er sich daran, einen Filter zu entwickeln, den er nicht ständig neu einstellen musste.
Er wählte aus seinen Diensten sieben Blogs aus, die das Themenspektrum abdeckten, das er beobachten wollte, dazu gehörten spreeblick, netzpolitik und wirres.net und baute eine Programm, das ihm nur Beiträge zeigte, die jene sieben Blogs in der letzten Zeit untereinander kommentiert oder weitergeleitet hatten. Er wollte die Texte nicht über den Inhalt filtern sondern über die Aufmerksamkeit, die sie innerhalb der sogenannten Blogosphäre, erregt hatten. Ohne sein Zutun sollte die Maschine rund um die Uhr Geschichten aus dem Informationsfluss fischen und auf einer Seite sortieren.
„Daher der Name“, sagt er, „rivva“.
Nach einer Weile stellt Frank Westphal fest, dass rivva Blogs anzeigte, die er nicht eingestellt hatte. Sie mussten mit den ursprünglichen sieben zusammenhängen und so oft mit ihnen kommuniziert haben, dass sie die Aufmerksamkeitsschwelle des Filters übersprungen hatten. Immer mehr Blogs tauchten auf wie neue Arten, das freute Frank Westphal, er sah es als Beweis für Verschiedenartigkeit. Aber dann stellt er fest, dass nie ein Blog hinzukam, der sich mit etwas anderem als Netz und Medien beschäftigte, als sei dieser Bereich innerhalb der Blogosphäre eine Insel. Das war das eine. Das andere war, dass auf dieser Insel alle auch noch über dieselben Geschichten redeten.
„Es war, als hätte ich einen Inzest organisiert“, sagt er.
Frank Westphal wollte sich mit rivva einen Überblick über die Blogs verschaffen, aber so bekamen die Blogs eine Übersicht über sich selbst. Jeder, der die Seite aufrief, konnte sehen, ob es sein Text unter die 25 Geschichten geschafft hatte, die rivva auswählt und falls ja, an welche Stelle. Es entstand eine Bewegung, die nur um sich selbst kreiste und in der kaum einmal ein fremder Gedanke auftauchte, so wie die Meldung rechts unten in der Zeitung, über die Frank Westphal sich freut, wenn er sie findet, weil sie ihm etwas erzählt, das er nicht erwartet hatte. Diese Tendenz zur Mitte, die hat ihn erschreckt.
„Wenn rivva die Blogosphäre killen würde“, sagt er, „das hätt' ich nicht gewollt.“
Was er wollte, war einfach eine Maschine zu bauen, die macht, was der Mensch ihr sagt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Menschen auf sie reagieren würden, als sei es umgekehrt.
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Wer sich die Karte der deutschen Blogosphäre ansieht, sieht, dass der Bereich, über den geredet wird, wenn über Blogs geredet wird, nur ein kleiner ist. Es gibt Blogs zu allen möglichen Themen außerhalb von Netz und Medien. Das beginnt beim Angeln, geht über Kochen und hört beim Stricken nicht auf. Blogs, die sich mit Mode beschäftigen, bilden eine der aktivsten Gemeinschaften, aber sie bleiben unter sich und haben kaum Überschneidungen zu anderen. Für sie ist das Blog ein Werkzeug, keine Lebenseinstellung. Deshalb stehen sie am Rande der Karte und der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Die Social Media Week ist nun eine dieser Veranstaltungen, auf denen die Blogosphäre sich wieder um sich selbst dreht. In einem Saal in Kreuzberg, in dem sonst ganz gute Bands spielen, stehen drei Sofas auf der Bühne, auf denen Leute versuchen, ein Gespräch zu führen, das zeitgleich ins Internet übertragen wird, damit es andere Leute von außen kommentieren können. Sie tun das über Twitter, einen Dienst, mit dem sie Nachrichten versenden, die dann auf einer Wand einlaufen, die im Rücken der Diskutanten aufgebaut ist. Manchmal sind die Nachrichten lustig, dann lacht das Publikum, und die Diskutanten, die nicht wissen worüber, drehen sich zur Wand um.
„Super scheiß Zusammenstellung“, läuft über die Wand. „Wir sind offenbar scheiße“, sagt Johnny Haeusler, der auf dem Podium sitzt und nun mit den anderen zusammen überlegt, ob das stimmt.
Die Veranstalter haben kein kabelloses Internet in den Saal gebracht, absichtlich, die Leute im Publikum sollten zuhören, aber da alle ihr Handy dabei haben oder viele einen Laptop, mit dem sie sich einwählen können, schalten sie sich ebenfalls in die Debatte ein, während eine Zeichnerin neben der Bühne versucht, das Geschehen auf Papier festzuhalten. Es schweben so viele Ebenen auf einmal durch den Raum, dass keine die Aufmerksamkeit länger binden kann, und hochbeschleunigt tritt die Veranstaltung auf der Stelle, so als habe sie keine Zeit und unendlich viel zugleich.
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Twitter ist das Prinzip des Kettenbriefs im Internet, und genauso schnell hat es sich auch verbreitet. Es ist ein Dienst, in den sich kleine Mitteilungen wie in eine Schleuder einspannen lassen. Vervielfacht um die Anzahl der Bekannten, die ein Nutzer hat, werden sie ins Netz geschickt, dort von anderen aufgenommen und um deren Bekannte vervielfacht weitergeleitet. Innerhalb von Minuten kann die Nachricht von einem Erdbeben in Haiti, einer Demonstration in Iran oder der Notwasserung eines Flugzeugs vor New York um die Welt gehen. Der Dienst wird gern als Microblog bezeichnet, dabei ist er viel zu flüchtig, Einträge sind schon nach Tagen wieder verschwunden, und es bedarf eines großen Aufwands, um in ihm ein Faktor zu werden. Wenige wichtige Blogger sind auch wichtige Twitterer, und das war sicher das Verstörende daran, dass etwas Neues auftauchen konnte, das sich nicht einmal die Mühe machte, die Hierarchie einzuebnen. Es baut an anderer Stelle einfach eine neue auf.
Felix Schwenzel erzählt zum Schluss noch eine Geschichte vom Anfang. Er schreibt unter wirres.net und war einer der ersten Blogger in Berlin. Bevor er kam, hatte er eine Lehre als Schreiner gemacht, sich unterfordert gefühlt, Architektur studiert und an der Universität ins Internet gefunden. Er mochte den Moment, wenn man etwas an einen Ort stellt, der so weit ist, dass es darin auch verloren gehen könnte, aber andere lesen es und schreiben zurück. Aber so sagt er es nicht.
Er sagt: „Man wirft einen Stein ins Wasser und löst einen Tsunami aus.“
Felix Schwenzel arbeitet als Webdesigner, er hat nicht darüber nachgedacht, aus dem Bloggen einen Beruf zu machen, was nicht heißen soll, dass es ihm nicht um Wirkung geht. Wenn er von den letzten zehn Jahren erzählt, spricht er oft von Streits und Fronten, es spielen große Firmen eine Rolle und Veranstaltungen, zu denen sonst nur Journalisten Zugang haben. Sein Blog wird von vielen hundert Leuten gelesen, es ist lustig, und das weiß er auch. Er will es aber immer wieder wissen.
„Kommt ein Echo oder verhallt es?“ fragt er sich.
Als im Sommer 2006 sich die Firma Opel von einer Werbeagentur einreden ließ, sie müsse jetzt auch etwas mit Bloggern machen, war Felix Schwenzel einer von vier, denen sie ein Auto gab, damit er darüber schrieb. Er legte offen, was ihm angeboten worden war, verfasste ein paar Texte, in denen es um Pollenfilter, Innenraumbeleuchtung und Getränkehalter ging und stellte schließlich fest, dass er das Auto nicht kaufen würde, es sei ihm zu vernünftig. War schon bei den Texten fraglich, ob Opel mit der Idee zufrieden sein konnte, das Echo in der Blogosphäre war niederschmetternd. Über Tage wurden die vier Blogger als „Arschlöcher“, „Straßennutten“ und „korrumpierte Rosettenlutscher“ beschimpft, woraufhin Felix Schwenzel einem seiner Kritiker androhte, ihn mit dem Auto zu besuchen und „die Fresse zu polieren“. Es war die erste große Werbeaktion in Blogs, zum ersten Mal ging es um mehr als nur, dass ein guter Text Kraft und Dreh haben müsse, und schon gab es Streit.
„Aber ich sehe natürlich das Problem der Glaubwürdigkeit“, sagt Felix Schwenzel.
Das Problem hat sich der Blogosphäre in den letzten Jahren immer wieder gestellt, ohne dass sie dazu eine klare Haltung eingenommen hätte, und meistens ging es dabei im Geld. Felix Schwenzel kann an der Sache mit Opel nichts Falsches finden, aber als sich vor einem Jahr eine Mobilfunkfirma von ein paar Bloggern bewerben ließ, entschied er sich dagegen zu sein, der Wirkung wegen. Er suchte sich eine Bloggerin, machte sich über denen Texte lustig, und innerhalb von Tagen war ihr Name bekannt und sie bekam dutzende Kommentaren, von denen sie einige so verletzten, das sie ihr Blog einstellte. Dabei waren ihre Texte über die Mobilfunkfirma auch nicht schlechter als seine über Opel.
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Geld ist früh ein Thema gewesen in der Blogosphäre und eins geblieben. Die einen lehnen es ab, weil Bloggen ihr Hobby ist und sie sich nicht an einen Markt anschließen wollen, in dem alles verwertbar sein muss. Für die anderen ist es das einzige Mittel, etwas Haltbares aufzubauen, das nicht von der nächsten Neuerung eingeebnet wird. Für sehr wenige hängt daran die Idee, sie selbst seien irgendwie umzumünzen. „Ich mach Euch alle reich“, hatte Sascha Lobo gesagt, als er verkündete, dass Johnny Haeusler und er eine Firma gegründet haben, die Blogs vermarkten werde. In Wahrheit aber können vom Bloggen bis heute nur Leute leben, deren Inhalte für die Werbung interessant sind, weil sie sich mit Mode oder Technik beschäftigen. Für Blogs, die sich auf die Persönlichkeit ihres Bloggers verlassen, trifft das selten zu. Einige von ihnen sind inzwischen bei Verlagen unter Vertrag, andere leben von Beratung, wieder andere bringen Journalisten für das Arbeitsamt Bloggen bei.
Johnny Haeusler ist inzwischen bei der Zeit angekommen, als sie angefangen haben. Er sucht in seinem Computer nach Fotos von den Partys, die sie damals gemacht haben und wundert sich, dass das alles erst fünf, sechs Jahre her sein soll.
„Es ist, als rede Opa vom Krieg“, sagt er.
Er hatte nach dem Artikel über Jamba neue Autoren zu spreeblick geholt. Er dachte, er würde Bücher mit ihren Texten herausgeben, aber er hat auch gedacht, dass sich Blogs vermarkten lassen. Irgendwie ist es nie richtig abgehoben, und inzwischen muss er einsehen, dass seine Leser das Blog verfolgen, aber die Werbung blockieren, mit der er dafür Geld verdienen würde. Früher hätte ihn das vielleicht noch nicht geärgert, aber er hat jetzt zwei Kinder, seine Frau arbeitet auch bei spreeblick, er kann nicht mehr von ein paar hundert Euro im Monat leben.
„Wenn man kein Geld damit verdient, bleibt es ein Hobby“, sagt er, „und ich will es nicht als Hobby. Das ist nicht mein Ding.“
Er spricht über die Twitterer, die sich einfach Teile aus seinem Blog herausziehen und ins Netz schicken, ohne dass er davon etwas hätte, keine Kommentare, kaum Besucher, aber dann will er nicht reden wie die Zeitungsjournalisten, die sich aus denselben Gründen über Blogs beklagen.
„Ich bin jetzt Mitte vierzig“, sagt er, „ich muss überlegen, wie es weitergeht.“
Als man ihn am Ende fragt, ob er junge Blogger kenne, ist er genauso ratlos wie jeder andere, den man zuvor gefragt hatte. Keiner konnte Namen nennen. Es ist, als sei da etwas hinter ihnen abgerissen, und sie haben es nicht einmal gemerkt, so beschäftigt waren sie mit sich.
„Keine Ahnung, wo jetzt alle sind“, sagt er.
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Ein Nachmittag im St Oberholz. Das Café ist voller Menschen, aber wer jetzt unter ihnen nach einer digitalen Bohme sucht, findet nur noch Leute mit Laptops. Sie sitzen an dem langen Holztisch, in den Sesseln, auf den Bänken an der Wand, und sind hinter ihren Tastaturen in Gespräche vertieft, die sich nur auf ihren Gesichtern ablesen lassen. Das Café ist heute einfach dafür bekannt, dass es bekannt ist. Internet gibt es natürlich immer noch umsonst.
„Aber das hat heute jeder“, sagt Luca Breveglieri.
Er ist siebzehn Jahre alt, und das Café bedeutet für ihn nur den Ort, der von seiner Schule aus dem Internet am nächsten liegt. Nach seiner letzten Stunde holt er sein Laptop aus dem Rucksack und ruft seine Seite bei Facebook auf, über die er fast alle seine Kontakte im Internet steuert. Auf dieser Seite verfolgt er die Handlungen von zweihundertelf Leuten, so wie sie seine verfolgen. Es sind Leute, mit denen er verwandt oder befreundet ist, und die er, darauf legt er Wert, alle persönlich kennt. Auf diese Weise hat er ein kleines Netz um sich gezogen, das ihn einerseits hält, damit er sich im großen Netz nicht verliert und anderseits filtert, was ihn von da erreicht.
Er stellt die Bilder aus, die er mit der Kamera macht, die er immer dabei hat. Er weist auf Lieder hin, die er auf Myspace gefunden, und auf Filme, die er auf youtube entdeckt hat. Er würde auch auf Blogs oder Zeitungen verweisen, wenn er welche lesen würde. Er kann etwas auf eine Pinnwand schreiben, dann lesen es alle oder jemandem eine persönliche Nachricht zukommen lassen, und all das tun seine Freunde auch. Außerdem ist er Mitglied in mehreren Gruppen. In einer tauscht er sich über das Karaoke in einem Berliner Park aus, in der anderen geht es darum, an einem bestimmten Tag der Woche einen Pullover zu tragen, hunderttausend Menschen, in einem Dutzend Länder, die an diesem Tag diese Gemeinsamkeit haben, und am nächsten Tag dann schon nicht mehr.
Facebook ist das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk der Welt. Es umfasst auf ebendieser Welt vierhundert Millionen Menschen, in Deutschland sind es sechs Millionen. Aber würde die Frage, wer der wichtigste Blogger der Blogosphäre sei noch einen Sinn ergeben, die Frage wer der wichtigste Mensch auf Facebook ist, klingt, als habe einer das Werkzeug nicht verstanden. Es geht hier nicht um Bekanntheit, es geht um Bekanntschaft.
Luca Breveglieri nutzt Facebook, um sich eine Schneise in die große, weite und unendliche Welt des Internets zu schlagen, und diese Schneise bahnen ihm seine Freunde, so wie er sie ihnen bahnt. Mag sein, dass ein kleiner Ausschnitt ist, aber einer, den er überblicken kann. Es gibt darin keine Grenzen, keine Hierarchie und keinen Besitz. Im Moment ist das die Zukunft, eine Zeitlang wenigstens.